VI

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"Essex, wir kommen!", schrie Greg am Freitagmorgen um sieben Uhr aus dem Autofenster des Beifahrersitzes. "Die sollen sich warm anziehen, jetzt kommen die wilden Jungs aus Portchester!" Ich musste ihn in seiner Euphorie bremsen, denn durch seinen Jubelsturm bemerkte er nicht mehr, dass unsere Mütter uns mit den Händen wild zuwinkten und seit einiger Zeit auf eine Reaktion von ihm warteten. Ich erkannte Tränen in ihren Augen und wusste genau, dass Mom und Betty auf unserem Esszimmertisch gemeinsam über einem Frühstückskaffee, natürlich mit Milchschaum, melancholisch werden würden.

"So, jetzt geht der Ernst des Lebens los." Ich klopfte auf Gregs Oberschenkel, als wir endlich aus unserem kleinen Heimatort herausgefahren waren. "Das glaubst du doch wohl selbst nicht! Jetzt beginnt die time of our lives! Jetzt müssen wir uns keine Gedanken mehr machen, wie wir von einer Party wieder nach Hause kommen sollen - jetzt ist die Party unser Zuhause!" Greg war gar nicht mehr zu bremsen und die eigentliche Aufgabe, die er in Essex zu erledigen hatte, schien vergessen. "Mit deinem Studium hast du eigentlich kaum Zeit fürs Feiern." "Von wegen! Dann brauch ich eben ein paar Semester mehr! Ich lass mir von irgendwelchen Gesetzesparagraphen mit Sicherheit nicht den Spaß verderben", konterte er und ich antwortete nichts mehr drauf.

"Heute ist gleich die erste Party für die Neuankömmlinge, da können wir gleich mal ein paar Kontakte knüpfen." "Definitiv." "Warum bist du eigentlich so ein Stimmungskiller?" "Ich bin kein Stimmungskiller, aber ich bin heute früh aufgestanden und da bin ich eben noch nicht so lebensfroh wie du!", verteidigte ich mich und ärgerte mich, dass Greg sofort bemerkt hatte, dass ich mit flauem Magen heute die Abreise angetreten hatte. "Falsch. Sag, was los ist, ich hab keine Lust, jetzt stundenlang neben der Spaßbremse Sam zu sitzen" Spaßbremse Sam und Großmaul Greg waren on the road again! "Ich fühl mich einfach ein wenig unwohl, wenn ich Mom so ganz allein daheim lasse", rückte ich raus mit der Sprache. "Mach dir keine Gedanken, meine Mom hat schon geplant, dass sie sie fragt, ob sie nicht ein paar Mal die Woche gemeinsam Kaffee trinken wollen." "Gute Idee von ihr", gab ich Greg's Mom Recht. "Die trinkt zur Zeit so viel Kaffee, die hat bald eine Koffeinüberdosis, wenn sie nicht aufpasst." "Das ist eher Milch mit ein wenig Kaffeegeschmack, das zählt nicht als Kaffee", lachte Greg und meine Stimmung wechselte langsam von bedrückt zu gelöst. Meine Mom würde das gut schaffen, ohne psychische Probleme zu bekommen, dachte ich.

"Dad?", ich zwickte mein Handy zwischen Ohr und Schulter. "Hey Großer! Na, seid ihr schon unterwegs?" "Ja, vor einer halbe Stunde losgefahren." "Freut mich, meld' dich bitte, wenn ihr angekommen seid. Du musst mich nicht anrufen, eine Nachricht reicht, aber ich will mir keine Sorgen machen müssen." "Mach ich." Ich verabschiedete mich und legte mein Handy in das Seitenfach. Gregs Blick war mir nicht entgangen. Sein Dad hatte sich nicht so von ihm verabschiedet, wie Greg es sich gewünscht hätte. Der war noch nicht einmal mit aufgestanden. Ein "Bye, Dad!", das Greg durch den Türspalt des Elternschlafzimmers hineingeflüstert hatte, auf das er mit "Bye, Greg! Fahrt vorsichtig!" antwortete, reichte als Verabschiedung in dessen Augen. "Dein Dad ist ziemlich fürsorglich", kommentierte er den Anruf und starrte auf die Straße vor uns. "Ja, aber manchmal übertreibt er. Ist auch nicht so toll", wollte ich relativieren. "Besser als überhaupt keine Fürsorge", erwiderte er und ich redete ihm nicht mehr dagegen. Immerhin hatte er Recht. Eigentlich wollte ich ihm erklären, dass sich hinter der scheinbaren Fürsorge meines Vaters keine ehrliche Absicht verbarg, sondern einfach nur ein Gegenpol zu seinen alkoholgetränkten Ausrastern. Es war immer dasselbe. Stundenlang schrie und tobte er abends und als er sich abreagiert hatte und der angestaute Frust weg war, da musste man seine darauffolgende Inszenierung eines gebrochenen, emotionalen Ehemannes und Vaters mitspielen. Mom hatte schon lange aufgehört, nach seiner Pfeife zu tanzen und ging seinem Wunsch der Blitz-Versöhnung nicht mehr nach. Darauf folgte zwar ein noch größerer Ausbruch seinerseits, was in einer Scheidungsankündigung endete, aber sie hatte Mom immer kalt gelassen, denn am nächsten Morgen fing die nächste Schauspielrunde an. Da verhielt er sich so, als wäre der gesamte Abend zuvor nie passiert.

THE BREAK OF COFFEEWhere stories live. Discover now