Kapitel 43 - Das Herz

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Hat das Rad sich gedreht, der Wahnsinn obsiegt, ist die Quelle versiegt? Was nützt mir Unsterblichkeit, wenn es bedeutet: auf ewig ohne dich?

Ich weiß, du wirst sterben. Und so will auch ich nicht mehr sein. Habe ich dich erst gefunden, sollte ich dich schon verlieren?

Lieber entbinde ich die Schwüre, breche jeden Eid. Ein Leben ohne dich bedeutet endlos Schmerz und Leid. Und so nimm' nicht nur die Bürde, sondern auch mein Geschenk an dich.

Das Geheimnis der Götter. Die Unsterblichkeit. Auf ewig du und ich. Was ändert sich, außer, dass wir leben?

Mein Herz. Es brennt und es bricht. Deines liebte mich. Und meines liebte dich.

- Aura, zweiter Psalm vor der Hinrichtung

      

Die Tür stand sperrangelweit offen, als Moira und Rafael in die Schenke eintraten. Sofort schoss ihr der Geruch von Bier und Schweiß in die Nase.

Kerzen brannten auf den Tischen, an denen Männer grölten, ihre Krüge hoben und sich zuprosteten. Moiras geübtes Auge sah viele Gelegenheiten, nach unbeaufsichtigten Hosentaschen und Beuteln zu greifen, doch umso genauer sie das Publikum betrachtete, das hier Einzug hielt, desto sicherer war sie, dass es nicht viel zu holen gäben würde - eine verschwendete Nacht für jeden Dieb.

Für einen Moment senkte sich der Lärm zu einem überraschten Raunen, als die Augen der Gäste sich auf sie richteten und misstrauisch die Ankömmlinge beäugten. Jedoch wandten sie sich ebenso rasant wieder ab, sobald sie auf die mitternachtsschwarze Obsidianrüstung des Schnitters trafen. Es dauerte nicht lange, bis sich die Gespräche und das Gelächter wieder zu einem lauten Tumult erhoben, so dicht und verwoben, als hinge er wie stickiger Nebel in der Luft.

Rafael sah kurz über seine Schulter und zwirbelte das Seil auf seinem Handgelenk auf, um Moira zu sich zu ziehen.

"Wenn du deinen Kummer ertränken willst, ist jetzt die Gelegenheit dazu", raunte er und führte sie zu der Theke gegenüber von ihnen.

Moira hasste es, wie ein Hund an seiner Seite laufen zu müssen. Noch dazu bemerkte er nicht die finsteren Blicke, mit denen sie ihn durchbohrte. Mit einem verächtlichen Schnauben kam sie neben ihm zum Stehen, als er sich über die Theke beugte und nach einer der Schankwirtinnen winkte.

"Das war ein Scherz." Während er wartete, sah er Moira aus den Augenwinkeln an, liebäugelte mit ihren vor Wut fest aufeinander gepressten Lippen. "Eines haben du und Arkin auf jeden Fall gemeinsam. Ihr versteht beide keinen Humor."

Eine stämmige Frau mittleren Alters, mit aufgequollenen Wangen, dunklen, im Nacken zusammengebundenen Haaren und einer Schürze um die Hüften, kam zu ihnen herübergeschwenkt. Auf Moira wirkte sie abgehärtet genug, um die Einzige zu sein, die sich auch nur annähernd in die Nähe des Schnitters wagte.

Lässig stützte er sich mit dem Ellenbogen auf die Theke und hielt zwei Finger in die Höhe. "Fruchtwein für mich und die Prinzessin."

Die Bedienung ließ ihn nicht aus ihren tränendicken Augen, als sie nach hinten griff und einen großen Tonkrug und zwei Holzbecher hervorzog.

"Kommst mir bekannt vor", sagte sie trocken und wischte mit dem Saum ihrer Schürze die Innenseiten der Becher aus. "Warst schon mal hier."

Dann schob sie die Utensilien zu ihm über die Theke. Rafael fingerte zwei Rubel aus seiner Tasche und schnipste sie ihr zu. "Mich vergisst man auch nicht so schnell."

Gekonnt fing die Frau die Münzen auf und wandte sich dem nächsten Gast zu, woraufhin er sich die Becher in die Hand drückte, mit der er das Seil für die Fesseln umschlungen hielt, und sich mit der anderen den Krug schnappte.

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⏰ Last updated: Feb 13, 2022 ⏰

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