Kapitel 24 - Schatten der Vergangenheit

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Der Knabe - Mama Mona hatte ihn Ben genannt - kauerte zwischen Säcken in einer Ecke im Dunkeln des Kellers und schniefte vor sich hin.

Er war es, unverkennbar. Das bunte Stück Holz steckte wie zuvor hinter seinem Ohr, und die kleine Holzfigur hielt er weiterhin fest umklammert - sein einziger Anker in dieser erdrückenden Welt. Von Nahem erkannte Moira, dass sie die Form einer Schnecke mit einem Stein als Häuschen hatte. Einer ihrer Fühler war abgebrochen.

"Hey, geht es dir gut?", fragte Moira und kniete sich vor ihn. Hinter sich konnte sie hören, wie Mama Mona heranstürmte.

"Es geht schon", antwortete der Junge und zog die Nase hoch. "Ich bin ja schon groß."

"Ja das bist du", entgegnete Moira lächelnd, wurde jedoch schlagartig wieder ernst. "Was hat der Schwarze Schnitter mit dir gemacht?"

"Der... Schnitter?", wiederholte er ängstlich, als ginge ihm ein böser Fluch über die Lippen. "Nichts hat er gemacht. Er hat nur geredet."

"Geredet?" Moira hob skeptisch die Augenbrauen. "Worüber denn?"

"Ich... ich weiß nicht..." Eine Träne kullerte seine Wange hinunter. Mit dem Ärmel wischte er sie fort, aber da folgte ihr schon die nächste. Seine Augen waren rot und glasig. Moiras Herz wurde schwer.

„Ich hätte es nicht sagen dürfen", flüsterte er rasch. „Ich hätte ihm den Namen nicht sagen dürfen."

„Namen? Wessen Name?" Sie strich ihm durch die schmutzigen Haare.

So wie es der Mann mit dem blauen Schal getan hat, realisierte sie und hielt plötzlich inne. Seine Stirn glühte.

„Du bist ja ganz heiß! Komm, du musst dich hinlegen."

"In meinem Haus dulde ich keine Widerworte!", dröhnte die Stimme der Amme durch den Keller, heiser vor Zorn. Mama Mona hatte sich hinter ihnen im Türrahmen positioniert.

"Du hast mir gar nichts zu sagen." Moira drehte sich zu ihr um und hob trotzig das Kinn. "Du hast dich doch nie für mich interessiert – oder irgendjemanden hier, außer dir selbst!"

Für den Bruchteil einer Sekunde legten sich die Schatten der Vergangenheit vor Moiras Augen. Mama Mona dort stehen zu sehen, weckte in ihr Erinnerungen, die sie bis dato verdrängt, aber nie vergessen hatte. Die Nächte, in denen sie genauso wie Ben in diesen Keller eingesperrt worden war. Die Schläge und die gestrichenen Abendessen, wenn sie wie so oft ihren eigenen Willen gehabt hatte, der ihrer Ziehmutter gründlich gegen den Strich gegangen war. Jede Maßnahme war der Amme recht gewesen.

Sie nannte es Erziehung, um ihren Kindern Disziplin und Respekt einzuhauchen. Moira jedoch hatte darin vor allem eines gesehen: Schinderei.

Sie nahm den Jungen bei der Hand und führte ihn sanft aber bestimmt mit sich. Doch Mama Mona war keine Frau, die jemand anderem das letzte Wort überließ.

"Du bist ein Unglück für jeden, der in deiner Nähe ist!" Wie eine Königin richtete sie ihr Zepter der Ungnade auf die Diebin, indem sie den Schöpflöffel nach ihr ausstreckte. "Um dich herum sind die anderen Kinder an Windpocken und Krätze gestorben. Es ist ein Wunder, dass diese Göre, dieser Rotschopf an deiner Seite, überhaupt noch lebt!"

"Dir ist das jedenfalls nicht zu verdanken."

Moira zwängte sich an ihr vorbei durch den Türrahmen. Den Knaben zog sie hinter sich her und ließ ihn auf einer der Pritschen Platz nehmen, die hinter dem provisorischen Vorhang lagen, welcher als Sichtschutz den Schlafbereich von der Küche trennte.

"Wenn ich nicht gewesen wäre", konterte die Amme und strich sich die Schürze glatt, als wollte sie alle Schuld von sich weisen, "würdest du gar nicht hier stehen, um in so einem Ton mit mir reden zu können! Ich habe dich aufgenommen, als niemand dich haben wollte! So wie alle anderen hier auch."

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