Kapitel 16 - Sonne und Blutmond

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Denk nicht nach, schau nicht zurück.

Noch nie war ihr dieser Spruch wichtiger vorgekommen als in dieser qualvollen Stunde, in der sie von Bahre zu Bahre, von Karren zu Karren liefen. Aus einem Meer aus fahl und grau starrten sie leere Augen an, schrien ihr aufgerissene Münder entgegen. Ihre Stimmen waren so laut, dass sie glaubte, es zerreiße ihr das Trommelfell. Einige schienen unversehrt, fast als würden sie nur schlafen, andere waren bis zur Unkenntlichkeit verbrannt.

Mit jedem weiteren Gesicht kam der Ekel - und auch die verräterische Erleichterung, derer sie sich schämte -, wenn sie feststellte, dass es nicht Flinn gehörte. Es drehte ihr den Magen um und trieb ihr die Galle hoch. Sie wollte nicht hinsehen, sich nicht ihre Gesichter einprägen, nicht an die Hinterbliebenen denken. Aber wenn sie Flinn finden wollte, war das der Preis.

Also ging sie weiter, sah hin, bis auch das letzte Leichentuch sich wieder senkte.

Als Imitri sie sanft von dem Karren wegschob, atmete sie heftig aus. Es fühlte sich an, als hätte sie die ganze Zeit über die Luft angehalten.

„Er ist nicht hier." Ihre Stimme bebte. „Das heißt dann wohl, dass er lebt." Noch immer konnte sie die Stimmen der Toten in ihrem Kopf flüstern hören. Der Anblick musste sie fast um den Verstand gebracht haben.

„Nun ja..." Imitri räusperte sich unruhig und kassierte dafür einen entsetzten Blick der Diebin. "Ich habe noch einen anderen Karren... erwartet. Ich habe ihn selbst hierherbringen lassen, aber er ist nicht unter denen, die wir – die du – gesehen hast..."

„Soll das bedeuten, er könnte trotzdem tot sein?" Moiras Augen weiteten sich vor Entsetzen. Ihre Stimme glich einem schrillen Schrei. "Dass das alles hier umsonst war?"

Allmählich begriff sie, wie sehr sie sich die Erleichterung, dass er noch lebte, herbeigesehnt hatte, und wie sehr sie die fehlende Gewissheit nun innerlich zerriss.

Imitri hob beschwichtigend die Hände. „Womöglich", fügte er vorsichtig an. "Die Gardisten scheinen schneller zu sein, als ich gedacht hätte. Aber ein wenig verwundert es mich schon... Es ist nicht besonders lange her und... nun ja, ich überprüfe ihre Arbeit nicht, aber normalerweise gibt es keinen Grund zur Eile. Die Einäscherung kann schließlich warten. Tote haben alle Zeit der Welt."

Moira ließ die Schultern sinken. Die Scherben der Enttäuschung schnitten ihr ins Herz, wie eine Klinge aus Stahl es nie vermocht hätte.

"Es... es tut mir leid." Zögerlich hob er den Arm. Fast schien es, als wollte er ihr eine Strähne aus dem Gesicht streichen, ließ ihn dann aber wieder sinken.

Den Krematorien kehrten sie den Rücken - und ebenso der Hoffnung. Sie würde mit ihrer Suche von vorn beginnen müssen, mit nichts als Unbestimmtheit.

Ich mag dich, Moira. Aber du bist auch wütend und verbittert. Warum musste sie sich gerade jetzt an Flinns Worte erinnern? Und noch dazu an diese?

Ja, dann bin ich eben verbittert und wütend! Sie schniefte in sich hinein und erntete einen besorgten Seitenblick von Imitri. Und wie wütend ich bin! Wenigstens hast du mich dann in einer Sache nicht belogen...

Nur mit Mühe gelang es ihr, die Tränen zurückzuhalten. Zaghaft tätschelte er ihren Arm, aber die Berührung spendete ihr keinen Trost.

„Aber das würde heißen..." Plötzlich kam ihr ein Gedanke, den sie kaum auszusprechen wagte. Ihre feucht glänzenden Augen fanden die seinen. "Könnte es sein, dass... du ihn gefunden hast?"

"Ich weiß nicht, ich... hoffe nicht." Seine Wangen glühten plötzlich rot vor Scham. "Wann und wo sollen sie ihn getötet haben, weißt du das?"

SchattenkinderWhere stories live. Discover now