Kapitel 7 - Taube Tränen

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Die unendliche Wut, die sie seit so vielen Jahren mit sich trug - Wut auf die Armut und Gewalt, in der sie lebte, und Wut auf die Blutmagier, die dafür verantwortlich waren - schien sie plötzlich von innen heraus zu verzehren. Ihre Haut fühlte sich an, als bade sie in einem Flammenmeer, und sie selbst war der Docht.

Sie hörte Schreie - hohe, schrille, unmenschliche Töne, wie das Heulen des Windes oder eines sterbenden Tieres - und begriff, dass sie es war, die schrie. Ihre eigene Stimme klang fremd und hohl in ihren Ohren. Alles verblasste. Bis auf die Angst und den Schmerz. Grauen und Finsternis.

Das Bellen eines Hundes drang an ihre Ohren; es war, als drücke jemand ein Kissen auf ihr Gesicht, so undeutlich war es. Spielten ihre Sinne ihr einen Streich? War es das, was die Hämomantie mit ihren Opfern machte? Sie beim Verbluten langsam um den Verstand bringen? Ihre Gedanken waren so verwaschen wie Gemälde nach einer Flut, die Farben bis zur Unkenntlichkeit verlaufen, vage und widersprüchlich. Doch alles ertrank in einem Meer aus Flammen.

Ich habe nichts bewirkt, dachte sie benommen. Was hätte ich bewirken sollen? Nichts davon war wichtig. So einfach ist das.

Moira spürte allmählich, wie das Leben aus ihrem Körper sickerte. Ihr Umhang lastete unendlich schwer auf ihr, das Messer glitt aus ihrer Hand. Nur der feste Griff, der noch immer um ihrer Kehle lag, hinderte sie daran, zusammenzubrechen.

Nein, so einfach ist es nicht, hauchte der Instinkt. Selbst ihre eigenen Gedanken kamen ihr nun fremd vor. Entscheide dich. Bevor andere es für dich tun.

Ihr war schwarz vor Augen, aber sie war noch nicht ohnmächtig.

Nein. Er will, dass ich leide. Er will es voll auskosten und fokussiert sich ganz darauf.

Irgendwie gelang es ihr, eine Hand zu heben. Sie spürte ein schwaches Prickeln in den Fingern, als wären sie zu lange der Kälte ausgesetzt gewesen, und griff nach seiner Robe. Wenn sie es nur schaffen könnte, an seine Seitentasche zu gelangen, und vielleicht, wenn sie nur versuchte, noch ein kleines Stückchen näher zu kommen...

„Du bist ein hartnäckiges Biest", knurrte er, mehr zu sich selbst, als seine Finger sich noch fester um ihre Kehle schlossen, und Moira keuchte auf. Er musste bemerkt haben, dass sie noch immer versuchte, ihm zu trotzen.

Moira versuchte, ihn anzusehen, aber vor ihren Augen tanzte nur eine Grimasse aus rot und schwarz. Ihre Finger wanderten zu seiner Seite, in die Tasche, und verwundert stellte sie fest, dass sie die Phiole griff. Doch ihr Arm gehorchte ihr nicht mehr. Schlaff und wehrlos hing er herunter wie bei einer Marionette, deren Fäden durchtrennt worden waren.

Ein lautes Knacken ertönte und mit einem Mal löste sich der Griff um ihren Hals. Ohne Halt sackte ihr Körper zusammen und rang gierig nach Luft. Auf einmal konnte sie wieder ihre Finger spüren, blinzeln, atmen. Das Blut rauschte in ihren Ohren, dennoch konnte sie das Bellen des Hundes nun ganz deutlich hören, und ebenso das panische Brüllen der Männer im Korridor. In ihren zittrigen Fingern hielt sie die Glasphiole - sie musste sie mit sich gezogen haben, als sie gestürzt war.

Etwas sauste durch die Luft. Der Blutmagier stöhnte, als er brutal zu Boden geschleudert wurde. Moira hob den Kopf und sah gerade noch, wie Lupus den Gehstock aus Obsidian über den Kopf hob und zu einem weiteren Schlag ausholte.

Doch der Hämomant gab sich nicht geschlagen. Blitzartig packte er den herabsausenden Stock. Beide ächzten und rangen darum. Sie schienen sich fast ebenbürtig zu sein; Lupus war zwar deutlich jünger und trainierter, aber seine Verkrüppelung schränkte ihn stark ein. Dennoch kämpfte er mit aller Kraft um sein Leben. Ihr Leben.

Der Magier hingegen hatte nun vollständig die Fassade des alten Mannes abgelegt. Kräftiger, als ein Mann seines Alters hätte sein dürfen, stieß er so heftig gegen Lupus, dass dieser ins Taumeln geriet.

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