Kapitel 35 - Keine Helden

378 55 588
                                    

Moira erinnerte sich nicht daran, wann und wie sie eingeschlafen war, als sie erwachte und erschrocken hochfuhr.

Wie lange bin ich weggenickt?, wunderte sie sich. Alles sah unverändert aus; die leere Wasserflasche lag noch neben ihr, zusammen mit einer leeren Holzschale, mit der man ihr eine Suppe gebracht und die sie gierig verschlungen hatte.

Es dauerte einen Augenblick, bis sie verstand, dass es das Scheppern der Stiefel gewesen war, dass sie geweckt hatte. Das Geräusch hallte durch die Gänge des Verlieses und schien sich auf ihre Zelle zuzubewegen. Vorsichtig richtete sie sich von dem nackten Steinboden auf.

Der Schwarze Schnitter hatte ihr bereits prophezeit, dass man sie hinrichten lassen würde. Leider hatte sie versäumt ihn zu fragen, ob er auch eine Vorstellung davon hatte, wann es soweit war. Bei dem Gedanken versteiften sich ihre Glieder vor Angst.

Nur der Schlaf hatte sie von dieser Furcht befreit, und nun wünschte sie sich, sie hätte sich einige Augenblicke länger in der Umarmung des süßen Schlummers – und des Vergessens - wiegen können.

Heute noch war sie eine Verurteilte. Morgen schon konnte sie eine Hingerichtete sein.

Ihr Gedankengang wurde abrupt unterbrochen, als die schweren Stiefel vor ihrer Zelle hielten. Einen Atemzug lang hatte sie gehofft, Arkin sei zurückgekehrt, um seine Unterhaltung mit ihr fortzusetzen. Doch dem war nicht so. Stattdessen sperrten zwei Wachen der Roten Garde die Gittertür auf und traten zu ihr ein.

Sind sie gekommen, um mich zu holen?, befürchtete sie und wich schockiert zurück, bis sie die Maserung der Steinwand in ihrem Rücken spürte.

Aber sie konnte sich ihnen nicht entziehen, denn die Zelle war viel zu klein, um zwei stämmigen Männern zu entkommen. Mit roher Gewalt packten sie Moira an den Schultern und schleiften sie hinaus, ohne ein Wort mit ihr zu wechseln. Als wäre sie kein Mensch, sondern ein Tier, das aus seinem Käfig geholt wurde.

Obwohl sie heftigen Widerstand leistete, gelang es ihr nicht, sich aus der Umklammerung zu befreien. Sie gingen die langen, dunklen Gänge des Verlieses entlang, bis sie schließlich eine gewundene Treppe hinaufgeführt wurde.

Moiras Herz raste in ihrer Brust, wenn sie daran dachte, dass sie gleich vor einem Henkersbeil oder einem Galgen stehen würde. Erinnerungen an Eliza und Imitri - aber auch an Flinn, Nala und Lupus - zogen vor ihrem inneren Auge vorbei.

Werde ich einen von ihnen je wiedersehen?

Jeder Schritt kam ihr mit einem Mal einzigartig und kostbar vor - so wie man den letzten Sonnenstrahl genoss, bevor die Nacht hereinbrach, oder den letzten Bissen Brot, wenn die Hungersnot nahte.

So oft war sie dem Tod entgangen, und nun schien sie Nigros' Spiel endgültig verloren zu haben. Noch dazu glaubte sie nicht, dass der Gott der Schmerzen ihren Augen mit Gnade begegnen würde, wenn die Zeit dafür kam; stattdessen würde er sie auf die grausamste Art zu sich holen.

Vielleicht hielt er dieses Schicksal nur für die Besten unter ihnen bereit. Diejenigen, die am wildesten kämpften und um jeden Atemzug rangen. Womöglich war dies Nigros' makabre Art zu zeigen, wen er liebte, und wem er keine Beachtung schenkte - oder zumindest war es das, was Moira sich einzureden versuchte.

Ein ersticktes Keuchen entwich ihr, als die beiden Wachen sie am Ende der Treppe durch eine Tür stießen, direkt in die Arme einer weiteren Patrouille. Mit ebenso viel Grobheit wie die Männer zuvor ergriffen sie ihre Arme und zerrten sie durch die Flure der Festung.

Es musste mitten in der Nacht sein, denn hinter den hohen, mit Bleiglas versetzten Fenstern war es stockfinster. Der Anblick ließ ihr Herz schwer werden.

SchattenkinderWhere stories live. Discover now