Kapitel 12 - Vergänglichkeit

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Warum schränkt sich ein allmächtiger Gott mit Gesetzen und Normen ein, wenn ihm doch als Despot uneingeschränkte Möglichkeiten gegeben wären? Das einzige Recht eines Gottes sollte es sein, über andere zu herrschen – letztendlich zählt nur die Macht des Stärkeren.

Warum umgibt sich ein unsterblicher Gott mit Vergänglichkeit? Der Tod ist nur etwas für Menschen. Was für uns ein Augenblick ist, ist für sie so lang wie ein Leben – von der Geburt bis zum Exitus.

Warum verliebt sich ein unfehlbarer Gott in einen Menschen? Sie sind schwache Geschöpfe. Keine andere Rasse bekämpft sich immer wieder selbst aus den banalsten Gründen. Neid und Wut, Hass und Hunger, Trauer und Liebe.

Für uns ist es nur ein Spiel. Aber es ist eines, das ich gewinnen werde.

- Ruban, erster Psalm


Als Moira zu sich kam, dauerte es einen Moment, bis sie begriff, dass sie nichts erkennen konnte, obwohl ihre Augen geöffnet waren.

Garrits Schläger mussten sie ihr verbunden haben. Ein fester Griff hielt ihre Beine umklammert, während sie über jemandes Schulter durch die Gegend getragen wurde. Noch dazu waren ihre Hände gefesselt. In der Ferne hörte sie die profane, aber gedämpfte Geräuschkulisse der Stadt; Ausrufer und Pferdegetrappel mischten sich mit Hundegebell und Handwerkslärm, während in unmittelbarer Nähe die Stiefel ihrer Peiniger auf dem Kopfsteinpflaster knirschten.

Sie musste sich in irgendeiner abgelegenen Gasse Klippenzunges befinden, so viel – oder so wenig – konnte sie erahnen. Allmählich kehrten ihre Sinne wieder zu ihr zurück, auch wenn der dichte Dunst, der über ihrem Geist lag, nur langsam lichter wurde.

Mit dem Bewusstsein kamen auch der Schmerz und die Erinnerung. Ihre Wunde pochte und ihre Muskeln brannten, aber mehr noch plagte sie die Sorge um Eliza. Noch immer hatte sie das Bild von ihr vor Augen: von Krämpfen gebeutelt, die Augen in den Höhlen verdreht.

Wenn sie ihr etwas angetan haben, dann...

Unter normalen Umständen hätte sie wohl versucht zu fliehen. Aber nur die wenigsten kannten Garrits persönliches Versteck, und sie mochte sich nicht ausmalen, was sie mit ihr anstellen würden, sollte es ihr gelingen, sich bei der Flucht die Augenbinde abzunehmen.

Davon abgesehen hatten die letzten Ereignisse ihr jede Kraft geraubt. Ihre Gedanken irrten umher wie die endlosen Abbilder sich gegenüberliegender Spiegel und rissen sie in einen Sog, der sie vor allem eines fühlen ließ: unendliche Müdigkeit.

Aber als sie daran dachte, dass er seine Handlanger nach ihr gesandt hatte, beschlich sie ein beunruhigendes Gefühl, das sie wachsam bleiben ließ.

Ist es, weil unser Einbruch gestern Nacht gescheitert ist?, mutmaßte sie, während sie bei jedem Schritt des Schlägers leicht vor und zurück wippte. Hat Garrit vielleicht Flinn vor mir abgepasst, war er deshalb nicht am Treffpunkt? Will er uns für unser Versagen bestrafen?

Noch nie hatte sie die Aufmerksamkeit des Bandenanführers auf sich gelenkt. 

Ihr Träger bog um eine Ecke und kam abrupt zum Stehen. Gemurmelte Gesprächsfetzen drangen an ihr Ohr, schienen jedoch keinen Sinn zu ergeben – als redeten sie in einer ihr unbekannten Sprache.

Seltsam... Haben sie mir etwas verabreicht, als ich bewusstlos war? Fühle ich mich deshalb so benommen?

Sie hatte davon gehört, dass getrocknete Blütendrogen nicht unbedingt mit den Zähnen zermahlt werden mussten, sondern auch auf die Zunge gelegt werden konnten, wo sie – zusammen mit dem Verstand – langsam dahinschmolzen.

SchattenkinderWhere stories live. Discover now