𝐄𝐈𝐍𝐒 - ein Brief zu Weihnachten

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𝐉𝐔𝐍𝐆 𝐇𝐎𝐒𝐄𝐎𝐊 waren in seiner Karriere als Poststellenunterwichtel schon einige bizarre Briefe untergekommen. Von Kindern, die sich einen leibechten Dinosaurier wünschten; von Kindern, die durch ihren lieblichen Wunsch die Gesetze der Realität durcheinander bringen würden; von Kindern, die sich etwas wünschten, das nicht in den Händen des Weihnachtszaubers lag, sondern eine Frage des Schicksals war.

Aber noch nie hatte er einen Brief in der Hand gehalten, von einem 20-jährigen Studenten, der ihr Handeln, das doch jährlich wenigstens eine Stunde der Liebe in den Häusern weltweit heraufbeschwor, Wunder vollbrachte, Leben rettete, als "kapitalistischen Scheißdreck" bezeichnete.

"Was machen wir mit solchen Briefen?", fragte Jimin, ein einfacher Poststellenwichtel, aber vor allem guter Freund Hoseoks, unbeholfen.

Wenn immer er einen Brief fand, der seinen Weg zu ihnen ins Weihnachtswinterland gefunden hatte, aber aus beliebigen Gründen nicht erfüllbar war, gab er ihn an seinen Freund Hobi weiter. Und der wusste normalerweise immer gleich, was zu tun war.

Nur jetzt saß er mindestens genauso unbeholfen wie Jimin auf seinem Stuhl und fragte sich, was genau denn ein "kapitalistischer Scheißdreck" war. Nett hörte es sich auf jeden Fall nicht an.

"Sowas Zornerfülltes hat noch kein Kind geschrieben. Normalerweise sind sie doch immer unheimlich freundlich oder können wenigstens jemand anderen nicht leiden", füllte Jimin Hobis Schweigen und fummelte an dem Briefpapier in seiner Hand herum.

"Naja, Menschen sind mit 20 kaum mehr als Kinder zu bezeichnen", antwortete der Angesprochene, weil er auch nicht mehr zu sagen wusste.

"Eigentlich sollte der Brief gar nicht an uns. Zumindest steht eine Adresse innerhalb der Menschenwelt auf dem Papier." Nun reichte Jimin dem Poststellenunterwichtel den Briefumschlag, den er die ganze Zeit zwischen seinen Fingern zerknittert hat.

Hoseok nahm ihn entgegen und warf einen kurzen Blick auf die Adresse. Tatsächlich hätte der Brief irgendwo in der Welt außerhalb der Weihnachtsmagie ankommen sollen. Er seufzte.

"Ich glaube, dass an diesem Brief zu viel besonders ist, dass wir ihn einfach so aussortieren sollten."

Er warf einen Blick durch die sich in unglaubliche Höhen stapelnden Briefberge zu dem Poststellenoberwichtel. Dieser gestikulierte wild um sich und selbst aus der Entfernung konnte Hoseok deutlich erkennen, dass dessen Kopf so rot angeschwollen war wie seine Zipfelmütze. Nein, der würde platzen, wenn Hoseok ihm einen so offensichtlich zu aussortierenden Brief vorlegen würde.

Jimin, der Hobis Blick in die nahe Ferne gefolgt war, musste sich ein kleines Grinsen verkneifen.

"Heresto fällt schonmal weg", fasste er die Situation zusammen, "und viele andere Wichtel werden gar nicht verstehen, worum es in diesem Brief geht."

"Ist das denn wichtig?" Hoseok sah seinen rotblonden Freund fragend an.

"Naja", der Wichtel schwang seinen Kopf von der einen zur anderen Seite, "dieser Jeongguk schreibt ja keinen irren Wahnsinn. Diesen Kapitalismus gibt es schon und was ich in Lehrbüchern von ihm mitbekommen habe, war er oftmals für viel Leid verantwortlich."

Hoseok schwieg einen Moment. "Und das ist wichtig zu verstehen?"

"Ach", seufzte Jimin unzufrieden auf, "ich will diesen Brief nur nicht jemandem geben, der einen Blick darauf wirft, den Schreiber für verrückt erklärt und ihn dann ohne Gedanken wegschmeißt! Und das würde so gut wie jeder hier tun, weil sie sich daran gewöhnt haben, alles Unerfüllbare weiterzuleiten und nicht näher nachzuforschen."

Ja, das stimmte zu einem gewissen Anteil, aber Hoseok war sich sicher, dass bei einem solchen Brief jeder hellhörig werden würde. Das hier war was anderes als ein Wunsch, der ihre Grenzen des Möglichen überschritt. Hier wurde nicht mal ein Wunsch geäußert, sondern elegant formulierte, unterschwellige Verwünschungen.

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