Kapitel 12

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Unruhig lief sie von einer Seite zur anderen. Die Sonne sank bereits und noch immer war Großmeister Zhan nicht aufgetaucht. War das vielleicht nur eine Falle? Obwohl, er musste ja noch gegen alle anderen Auszubildenden kämpfen. Das dauerte bestimmt ein bisschen...Verzweifelt gab Ruby ihre Überlegungen auf und setzte sich an den Teich.

Beruhigend plätscherte dieser vor sich hin. Sein kristallklares Wasser schien ihr magisch entgegen. Ein kleines Seerosenblatt schwamm auf der Oberfläche und winzige Fischchen zogen ruhig ihre Bahnen. Sanft leckte das Wasser an dem saftigen Gras, auf welches sich Ruby im Schneidersitz gesetzt hatte. Weich und vertraut fühlte es sich an.

Langsam ließ sie ihren Finger über die Wasseroberfläche gleiten und spürte diese beruhigende Kälte. Ihr Puls verlangsamte sich, ließ in ihr ein behagliches Gefühl zurück. Eine innere Ruhe machte sich in ihr breit und auf einmal hatte sie kein Problem mehr zu warten.

Seelenruhig sah sie sich um. Betrachtete die kleinen, bunten Blumen, die sich am Fels empor streckten. Den großen Baum, der seine dicken Äste beschützend über der Lichtung erhoben hatte und den schmalen Durchgang, der sicher nicht für jede Statur gemacht war.

Während ihr Blick noch so durch die Gegend schweifte, nahm sie auf einmal einen ungewöhnlichen Schatten war, der sich in einer kleinen Nische im Fels verzogen hatte. "Wer ist da?", rief Ruby. Die rechte Hand legte sie vorsichtshalber an ihr Schwert, dann stand sie langsam auf.

Ergeben trat die Gestalt aus ihrem Versteck. Es war der Großmeister. Sein Blick war, wie sonst auch, nicht zu deuten, doch Ruby meinte ein bisschen Neugierde in ihnen aufblitzen zu sehen. Überrascht starrte sie ihn an. War der etwa schon die ganze Zeit da?

"Du hast rote Augen", begann er ohne weitere Umschweife. Er hielt anscheinend nicht viel von Smalltalk. "Und?", fragte Ruby ihn herausfordernd. Eine seltsame Kraft pulsierte in ihr. Sie fühlte sich, als könne sie alles schaffen. Sie würde sich jetzt nicht von ihm einschüchtern lassen.

"Du gehörst zu den Asthenden", stellte er unnötigerweise fest. Ach, auch schon bemerkt? Schnell schluckte Ruby diese Bemerkung herunter und schaute ihn stattdessen nur fragend an. Was wollte er von ihr?

"Es ist erstaunlich. Die Asthenden sind normalerweise nicht dafür bekannt, ihre Kinder hierher zu schicken. Sie leben für sich und mischen sich in keine Angelegenheiten von außerhalb ein", meinte er. Jetzt schien er wirklich neugierig zu sein. Wie ein kleiner Junge setzte er sich nun vor sie ins Gras. Ruby zögerte, tat es ihm dann jedoch gleich. Misstrauisch wie sie war, antwortete sie ihm allerdings immer noch nicht.

"Du bist schon in Schwierigkeiten. Willst du da nicht wieder rauskommen?", fragte der Großmeister mit unschuldiger Miene. Doch die Drohung in seinen Worten war unschwer zu erkennen. Zornig starrte Ruby ihn an. Sie hasste Erpressungen jeglicher Art. Mit Freundlichkeit ging es bei Zhan wohl nicht. Was hatte sie auch gedacht? Dennoch, er saß am längeren Hebel. Eigentlich wollte sie nicht nachgeben, aber sie hatte ja doch keine Wahl. Ruby seufzte tief.

"Ich war halt eben anders. Hab mich schon früh für's Kämpfen interessiert", meinte sie betont lässig. "Und trotzdem schicken die Eltern einen normalerweise nicht hierher", bohrte der Großmeister weiter nach. "Die Asthenden sind dem Krieg gegenüber neutral eingestellt", erklärte er weiter. Seine Stimme wurde mit jedem Wort eisiger und lauter zugleich. "Ja und? Dann ist das bei uns eben anders", widersprach Ruby trotzig. Sie würde sich nicht geschlagen geben.

"Die Asthenden wollten sich noch nie einmischen!", schrie der Großmeister sie auf einmal an. Er war aufgesprungen und stand nun bedrohlich vor ihr. Mühsam versuchte Ruby ihre Tränen zu unterdrücken. Sie wusste, worauf dieses Gespräch hinauslaufen würde und das ging ihr gehörig gegen den Strich. Schnell wandte sie den Kopf ab. Sie wollte darauf nicht antworten. Sie konnte darauf nicht antworten.

"Sie haben dich nie geliebt, oder? Wollten dich einfach nur los werden!", unbarmherzig stellte Zhan immer weiter seine Vermutungen auf. "Deswegen wurdest du auch schon mit zwölf hierher geschickt, oder?" Immer trauriger und wütender zugleich versuchte Ruby, nicht darauf einzugehen. Das Schlimmste an alledem war, dass er Recht hatte. Es war für ihren Stamm nicht üblich, doch so war es.

"Sag es mir, habe ich recht?", nun wurde seine Stimme wieder so kalt wie eh und je. Abweisend, gar fordernd. "Ja!", brüllte Ruby ihm plötzlich entgegen. Sie konnte sich nun nicht mehr zurückhalten. Das war ihre Schwachstelle. Eine Träne hatte sich bereits aus ihrem Augenwinkel gestohlen, doch es interessierte sie gerade herzlich wenig. Der Ausbilder ging nicht auf ihren Wutausbruch ein, stattdessen entspannte er sich wieder ein wenig.

Dies brachte auch Ruby dazu ruhiger zu werden. Hastig wischte sie sich mit dem Ärmel die Tränen weg. Sie wollte keine Schwäche zeigen. "Du bist viel ungewöhnlicher als du denkst", murmelte Großmeister Zhan auf einmal. Seine Stimme schien von ganz woanders her zu kommen. Sie war viel weicher als noch vor ein paar Sekunden. Seine Augen hatte er abwesend in die Ferne gerichtet.

"Was soll das heißen?", fragte Ruby matt. "Du wirst es früh genug herausfinden", meinte Zhan nur und ging. Stand einfach auf und ließ sie alleine zurück. Aufgewühlt schaute Ruby ihm hinterher.

Du bist viel ungewöhnlicher, als du denkst. Immer wieder drehten sich ihre Gedanken um diesen einen Satz. Sie hatte keine Ahnung, was er damit meinte. Doch warum wollte gerade er das wissen? War er etwa auch anders. Was bedeutete bei ihm anders? Konnte sie etwas schlechter? Etwas besser? War irgendetwas falsch an ihr? Von vielen Überlegungen gequält, zwängte sie sich diesmal durch den richtigen Ausgang, statt wieder die Wand hochzuklettern.

War dann doch etwas bequemer.

Ruby wusste nicht mehr, was sie denken sollte. Sie war größtenteils einfach nur verwirrt. Sie verstand nichts mehr. Ihr ganzes Leben war von einem Tag auf den anderen zu einem riesengroßen Rätsel geworden, welches sie nicht im Stande war zu lösen. Sie wusste nicht, was sie jetzt fühlen sollte. In ihr drin herrschte einfach nur Chaos.

Je länger sie nachdachte, desto mehr kristallisierte sich eine bestimmte Frage aus dem Durcheinander in ihrem Kopf heraus. Es war eigentlich banal, dass es genau diese Frage und keine der tausend andern war, aber die Antwort wollte sie trotzdem wissen. Also lief sie schnurstracks zwischen den, immer dunkler werdenden, Bäumen hindurch. Bald würde die Nacht hereinbrechen.

Noch einen Zahn zulegend, ging sie zum Lager zurück. Zu ihrem Glück sah sie den Großmeister gerade auf der Lichtung stehen. Die anderen mussten beim Essen sein, denn er war allein und hatte den Blick auf den silbrigen Mond gerichtet, der mehr und mehr sichtbar wurde. Leise schlich sie sich von hinten an ihn an. Sie wollte ihn auf keinen Fall stören. Wieso auch immer sie bei ihm noch Anstandsregeln einhielt. Dennoch blieb sie ein wenig abseits stehen.

"Was möchtest du, Ruby", fragte Großmeister Zhan, ohne den Blick von dem Mond abzuwenden. Ein wenig erschrocken schaute sie zu ihm, sie hatte doch eigentlich kein Geräusch gemacht. Egal. Nur eine weitere Frage, der sie jetzt nicht nachgehen würde.

"Kriege ich einen Regelverstoß?", fragte sie fest.

"Wofür denn?"

"Für's zu spät kommen."

"Denkst du?

"Ich weiß es nicht."

"Hättest du es verdient?"

Eine lange Pause entstand.

"Ja."

"Dann kennst du die Antwort bereits."

Ruby senkte den Kopf.

"Nur dafür?"

"Ja."

Er schaute sie kein einziges Mal an und doch war klar, dass er ihren Kampf im Felsenkessel niemandem verraten würde. Er war vergeben und vergessen. Genauso wie ihr Gespräch. Ruby wusste nicht wieso, aber es erleichterte sie.

Im Schutz der Dunkelheit machte sie sich auf den Weg zum Essenszelt. Nun musste sie es nur noch irgendwie fertig bringen, die nächsten sechs Mondzyklen keinen Regelverstoß zu kassieren. Dann war sie sicher - doch so wie sie sich kannte, konnte das echt schwierig werden.

SaghoryaWhere stories live. Discover now