Prolog

94 14 51
                                    

Eine angenehme Stille umgab die ältere Frau und hüllte sie ein. Ruhe. In sich gekehrt saß sie auf einem hohen Felsplateau und hatte den Blick auf die weite Landschaft unter sich gerichtet. Im Schneidersitz sitzend, sog sie gierig die kühle Abendluft in sich hinein. Ließ sich von der verführerischen Schönheit des Sonnenuntergangs einlullen und fand den Weg in ihr tiefstes Inneres. In ihre Innere Ruhe.

Sie schloss die Augen. Die letzten warmen Sonnenstrahlen des Abends trafen ihre alte, zerbrechliche Haut. Ließen ihre starken Falten in neuem Glanz erscheinen und wärmten ihre altersschwachen Glieder.

Gerade, als die Sonne in Form eines tiefroten Punktes am Horizont zu verschwinden drohte, sank die Frau in eine tiefe Trance. Ihr Atem wurde ruhiger. Ihr Herzschlag rhythmischer, bis sie sich schließlich schwerelos fühlte. Ihr Blickfeld verschwamm und sie sah nur noch schwarz vor sich.

Dunkelheit.

Dann vernahm sie in den Augenwinkeln ein leichtes Flimmern. Die Finsternis verschwand und machte barbarischem Kriegsgeschrei Platz. Vor ihr tat sich ein riesiges Schlachtfeld auf. Die braune Erde war hart getrampelt, die trostlose Landschaft war trist und grau. Hunderte von Toten belagerten die Erde und die bis dahin überlebenden Krieger kämpften ohne Erbarmen.

Das metallene Klirren der Schwerter schmerzte in den Ohren der alten Frau. Doch am Schlimmsten war der Geruch nach Verwesung in der Luft. Genauso wie das scharlachrote Blut, welches sich anscheinend zur Aufgabe gemacht hatte, den gesamten Boden zu beschmutzen.

Pferde galoppierten wild umher; waren außer Kontrolle geraten. Keinen interessierte es. In aller Augen stand nur die Gier. Die Gier nach Macht und Überlegenheit. Die Gier, alles beherrschen zu können. Und alle waren sie sich dabei sicher: Sie würden bis zu ihrem letzten Atemzug kämpfen, koste es, was es wolle.

Der Blick der alten Frau traf auf den eines mächtigen Kriegers. Die dunklen Augen, undefinierbarer Farbe, strahlten eine Boshaftigkeit aus, die ihr in alle Glieder fuhr. Die Gesichtszüge, von harten Kanten und unzähligen Narben geprägt, ließen ihn so grausam erscheinen, dass der Frau, Xynthia, ein eisiger Schauer den Rücken hinunterlief, obgleich sie wusste, dass er sie nicht sehen konnte. Dass er ihr in diesem Moment nichts anhaben konnte.

Augenblicklich begann sie zu zittern. Kein Funken Menschlichkeit war mehr in diesem Monster zu erkennen. Sein Inneres schien genauso verdorben zu sein, wie die Seele, die diesen Krieg überhaupt erst entzündet hatte. Einzig für diesen schien er noch zu leben, seine kräftigen Muskeln zu trainieren und Schrecken im ganzen Land zu verbreiten. Der Krieg hatte ihn in seiner Hand, so wie alle hier Anwesenden.

Plötzlich setzte Regen ein. Verwusch die Blutgerüche mit dem vertrauenerweckenden Duft nach neuem Leben. Frisch, wie wenn ein neuer Pflanzenkeim sich dürftig nach der Sonne reckt. Seine zarten Blätter mit aller Kraft nach oben streckt, aus dem Boden sprießt und Sicherheit schenkt, dass es immer neues Leben geben wird. Ein Lichtblick in der sonstigen Dunkelheit.

Mit neuem Elan drehte sich Xynthia einmal um sich selbst. Hoffte Antworten auf all ihre Fragen zu finden. Doch, noch ehe sie es sich versah, tauchte unvermittelt Nebel auf. Verhüllte all den Krieg, die Opfer und trug sie hinauf zu den Sternen. Ließ sie dem Himmel immer näher kommen.

Sie blickte hinauf - und stutzte. Die Sterne begannen wild zu tanzen. Formierten sich neu. Jeder suchte sich seinen Platz. Seinen vorherbestimmten Platz. Der auftauchende Mond tauchte sie in silbriges Licht.

Sie sogen es gierig in sich auf. Strahlten und fanden sich schließlich in Form vierer Menschen wieder. Vierer, auf die eine besondere Bestimmung wartete.

Säuselnde Stimmen begannen zu sprechen. Erst leise, dann immer lauter. Bis sie wie kalter Frost die alte Frau lähmten und sie zurückfahren ließ. Eisig zerschnitt ihr Chor die kalte Luft: "Die Vergangenheit ist der Schlüssel. Die Zukunft bringt den Frieden. Die Gegenwart ist die, die beeinflusst werden muss. Finde die vier edlen. Nur sie vermögen die Zukunft überhaupt erst erstrahlen zu lassen. Doch sei gewarnt."

Ein Blitz durchfuhr die alte Frau und ließ sie in gleißend hellem Licht erstrahlen, bevor sie schlussendlich, all ihrer Kräfte beraubt, in sich zusammen sank.

Sie fiel. Fiel, bis sie glaubte, nie wieder festen Boden unter sich zu spüren. Sie keuchte, schrie. Niemand erhörte sie. Ihre stummen Hilferufe verklangen im Nichts. Sie sank immer tiefer. Dem Erdboden entgegen. Sie machte sich auf den Aufprall gefasst - doch nichts geschah.

Verwirrt schlug sie die Augen wieder auf und sofort durchfuhr sie Erleichterung, als sie sich auf dem Felsen in den Bergen wiederfand. Ihrer Heimat.

Und dennoch durchkroch sie noch immer diese Furcht. Eine Gänsehaut zog sich über ihre Arme und spiegelte nur ansatzweise wieder, welche Angst all ihre Glieder lähmte.

Langsam streckte sie ihren versteiften Körper und reckte ihren Kopf gen Himmel. "Bitte lass das nicht zu", hauchte sie. So leise, dass der raue Wind schon die Wörter davongetragen hatte, als jene kaum über ihre trockenen Lippen gekommen waren.

Sie hielt ihr Amulett fest umklammert, als wäre es ihr Anker, ohne den sie nicht überleben könnte. Dann rappelte sie sich auf. Schnappte sich ihren Stock und begann in gekrümmter Haltung den Aufstieg. Stumm wie eh und je, kehrte sie in ihre Hütte zurück. Wilder Kräuterduft empfing sie. Die Vertrautheit der Umgebung beruhigte und tröstete zugleich, während sie sich auf ihr, aus langen Gräsern geflochtenes, Bett legte. Moos bildete die Polsterung. Eine Fackel erhellte den kleinen Raum. Perfekt sortierte Pflanzen, nahmen eine ganze Zimmerseite ein und füllten die sonstige Leere.

"Sie werden bereit sein müssen. Ansonsten ist die Menschheit verloren", waren die letzten Worte der Alten, bevor sie in einen unruhigen Schlaf fiel. Wohlwissend, dass das Schicksal ihrer bekannten Welt nun auf den Schultern vierer Jugendlicher lastete. Wenn sie versagten, war Saghorya ein für alle mal verloren.

SaghoryaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt