Mavie - Die Prophezeiung des Raben

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Als Mavie am fünften Morgen aufwachte, stapelten sich so viele Kisten im Raum, dass sie über hinüber klettern musste, um aus dem Bett zu kommen. Twix saß mit müden, verquollenen Augen über ein vergilbtes Blatt gebeugt. Der Schein der Lampe beleuchtete mehr sein schneeweißes Haar als die mysteriösen Zeichen darauf. Twix Kopf lag auf einen Stapel gesunken direkt neben ihm - kaum auszumachen in dem Meer aus schimmernden, endlos langen Barthaaren.

Hinter den vielen Kisten war es so dunkel gewesen, dass Mavie gar nichts bemerkt hatte, wie sie die Nacht über durchgearbeitet hatten.

"Immer noch nichts?", fragte sie. Twix schüttelte den Kopf. Seine Augen glitten, langsamer als sonst, aber unermüdlich durch die Zeilen. Hin und wieder musste er blinzeln.

Mavie warf einen Blick durch den Raum. Die Blätter lagen völlig durcheinander in den Kisten. Es gab keine mehr, in der sich ein unangetasteter Stapel befand. Jedenfalls unter den oberen nicht. Langsam mussten die Zwerge alles durchgearbeitet haben. Manche Kisten hatten sie sogar doppelt durchgekämmt.

Nur im Schrank hinter ihnen lagen noch Stapel von Blättern. Aber auch die neigten sich langsam dem Ende zu. Vor ein paar Tagen noch hatte der Schrank übergequollen vor Pergament und alten Gegenständen. Die oberen Fächer beherbergten nun nur noch silbernes Besteck, eine alte Vase mit einer vertrockneten dunkelroten Rose, zwei besonders schicke lederne Zwergenhüte, eine sehr edel verzierte Axt und jede Menge Staub.

Luan schlief noch tief und fest. Hinter den Kisten war ein leises Schnarchen zu hören. (Von dem ganzen aufgewirbelten Staub zwischen dem Pergament hatten sie alle Schnupfen bekommen.) Aus Erfahrung konnte Mavie sagen, dass es noch eine Stunde dauern würde, bis er aufwachte - es sei denn, man kippte ihm einen Kübel kaltes Wasser über den Kopf.

Sie setzte sich auf einen Stapel Kisten und stützte den Kopf ab. Wenn sie bis jetzt noch nichts gefunden hatten, würden sie wohl nie etwas finden. Hundert Jahre warten, ein elendig weiter Weg durch den Wald und unzählige Gefahren - und jetzt scheiterte alles an dem Gedächtnis der Zwerge. Was war denn das überhaupt für ein verrückter Plan gewesen, zwei Zwerge in den Wald zu schicken, um ihr etwas mitteilen zu lassen - und dann hundert Jahre zu warten? Sie zweifelte immer noch ein wenig daran, dass Trix und Twix wirklich ihretwegen hier warten sollten. Wahrscheinlich waren sie im Alter verrückt geworden und hatten sich das alles nur eingebildet... nur, dass die zwei irgendwie so gar nicht verrückt wirkten. Ein wenig verwirrt vielleicht. Besonders Trix, wenn er mal wieder nach seiner Brille suchte.

Aber wenn sie ihr wirklich etwas zu sagen hatten – vom großen Adler persönlich – was, im Wald, könnte das sein?

Wenn sie es nicht bald fanden, würde sie jedenfalls nie wieder nach Windenbach zurückkehren können.

Unruhig rutschte sie hin und her (woraufhin der Boden unter). Sie hielt das keinen Tag länger hier aus. Warmes Bett und gutes Essen hin oder her. Wenn sie heute nichts fanden, dann würde sie umdrehen und trotzdem in das Dorf zurückgehen. Und wenn es nur ein kurzer Besuch war. Sie musste Kenja sehen. Zumindest aus der Ferne. Sie musste wissen, dass es ihm gut ging. Ihnen allen. Du meinst, dass er noch lebt, sagte eine gemeine Stimme in ihrem Kopf. Aber Mavie wollte gar nicht an diese Frage denken. Er lebte. Er musste noch leben.

Sie konnten ihn nicht mitgenommen haben.

Twix sah auf, als der Schein der Lampe plötzlich flackerte. Krächz hatte sich irgendwann auf sie draufgesetzt – wahrscheinlich, weil es dort warm war. Jetzt begann er auf einmal, darauf zu schaukeln. So stark, dass sie an ihrer Schnur durch den halben Raum schwang.

Mavie stand auf. „Krächz!", rief sie. „Hör auf! Wenn du nicht aufpasst, setzt du die ganze Hütte in Brand!"

Sie versuchte, die Lampe in die Hände zu bekommen, um sie festzuhalten. Aber Krächz schaukelte nur noch stärker.

Die Legende der Nachtigall 2 - Das Vermächtnis der ZwergeWhere stories live. Discover now