Dilara - Jima, der Seefahrer

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Die Wildnis. Sie war anders als alles, was Dilara kannte. Sie war dunkel und rau, kalt, nass und hungrig, rücksichtslos und unhöflich, feindlich. Und doch friedlich, idyllisch, heilsam, fröhlich, frei, wild, unbegrenzt, wunderschön.

Sie fragte nicht nach dem, was man denn noch ertragen konnte, oder ob einem der Regen grade recht war. Man musste in jeder Sekunde auf der Hut sein und überall lauerten Gefahren, die man nicht kannte. 

Dilara kannte die Wildnis ganz und gar nicht. Ihre erste wirkliche Begegnung mit ihr hatte sie in dem Moment, als der Jukku aus dem Gebüsch sprang. "Duck dich!", rief Le plötzlich aus dem Nichts heraus. Dilara machte den Fehler, sich zuerst verwirrt umzusehen, bevor sie seinem Befehl Folge leistete. Und in dieser Sekunde trafen sich ihre Blicke. Große, dunkelgelbe Augen, die über einer feuchten, ungewöhnlich großen Schnauze lagen, bohrten sich in sie hinein. Dilara erstarrte. Als wäre sie gefesselt, oder zu einer Statue geworden wie Legon der Eiserne, starrte sie die Schnauze an und beobachtete, wie sie sich kräuselte. Nein, sie kräuselte sich nicht. Sie verzog sich, als sich ein riesiges, breites Maul voller spitzer Zähne öffnete. Der Kopf wanderte weiter Richtung Boden, als die Kreatur sich duckte. Sie scheint springen zu wollen, dachte Dilara, noch immer zu keiner Bewegung fähig.

"Zur Seite!", brüllte Le. Er riss an ihrem Handgelenk. Dilara schlitterte über den Boden, über raschelndes Laub, unter einem Ast hindurch. Das Geäst einer breiten Tanne umgab sie. Le kauerte neben ihr. Durch die Zweige hindurch beobachtete sie, wie das seltsame Tier brüllend im Kreis sprang. Es war größer als ein Pferd, aber sein Körper war nicht der eines Pferdes. Mit seinem buschigen weißen Fell sah es keinem Wesen ähnlich, dass sie kannte. Aber im Moment war es ihr egal, wem es ähnlich sah oder nicht. Denn seine gelben Augen verengten sich zu winzigen Schlitzen, als es den Blick direkt auf ihre Tanne richtete. In ihrem Versteck gab es kein Entkommen. 

Das Unwesen machte einen Satz auf den Baum zu. Seine langen Krallen bohrten sich tief in die Rinde. Der Baum bog sich weit nach hinten. Ein Riss ging durch seinen Stamm und weitete sich zu einem Spalt aus. Diese Krallen waren gemacht worden, um sich in Felsen zu bohren. Nicht in Baumstämme. 

So gewaltig die Berge und so jähzornig die Menschen zwischen ihnen auch sein mochten, alle anderen Wesen, die dort lebten, waren meist sanftmütig und fragil gwesen. Sie konnten geschmeidig von Felsen zu Felsen springen. Natürlich gab es auch Löwen und Bären, Füchse und viele Wölfe. Aber selbst die waren nicht so gefürchtet wie die tief aus dem Wald. Der Jukku war eines der schrecklichsten Wesen aus den Bergen gewesen. Zum Glück waren sie sehr selten. Und als sie noch weit oben in den Gipfelhöhlen gehaust hatten, waren sie auch recht friedliche Tiere gewesen, solange man ihnen nicht zu nahe gekommen war oder sie Hunger hatten. Da Jukkus nur alle hundert Jahre einmal fraßen (dafür dann aber schrecklich viel), waren die Siedlungen meist sicher gewesen vor ihnen. Aber seit die Königin sie vertreiben lassen hatte, fühlten sie sich pausenlos angegriffen. Die wenigen, die von ihnen übrig waren, stifteten Unruhe, wo immer sie hinkamen.

Dieses wuchtige Exemplar stürzte sich gerade auf Dilara zu, als Le abermals an ihr riss. Diesmal direkt auf das Wesen zu. Dilara wollte ihn noch aufhalten, aber da duckten sie sich schon unter den fünf Tatzen hindurch.

"Renn!", brüllte Le. Luan Löwensohn, der wohl mit jedem Wesen dieser Welt so umgehen hatte können wie mit einem dressierten Schlosshündchen, hätte an dieser Stelle wohl gewusst, wie er mit dem Tier kämpfen musste. Aber Le war ein Rebell. Experte für den Kampf gegen Hunger, Kälte und Wachmänner. Ihm blieb nichts anderes als zu Laufen, so schnell er Dilara hinter sich herziehen konnte.

Man muss wissen, dass Jukkus Halbflieger sind - eine Art von Wesen, die es in alter Zeit zahlreich in den Bergen gab. Mit der einen Hälfte ihres Körpers können sie an Felswänden klettern. Mit der anderen fliegen. Auf der einen Seite hatten sie feste, lange Zähne, drei starke Beine mit seltsam krummen Tatzen und bewegliche Krallen überall versteckt im Fell, die sich zwischen den Felsen festhaken konnten. Früher hatte es oft Steinlawinen in den Bergdörfern gegeben, wenn sich einer von ihnen in einer Wand verhakt hatte und versuchte, sich zu befreien. Auf ihrer anderen Seite hatten sie besonders glattes, geschmeidiges Fell, sie konnten ihre Tatzen und ihre drei Ohren eng an den Körper anlegen und ein großer, beinahe durchsichtiger Flügel, der wie Eis glitzerte in der Sonne, ragte aus ihrer Schulter heraus. 

Die Legende der Nachtigall 2 - Das Vermächtnis der ZwergeWhere stories live. Discover now