Dilara - Ein Sprung ins kalte Wasser

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Prinzessin Dilara war nun wirklich keine Prinzessin mehr. Oder zumindest war sie kaum noch eine. 

Sie ging nicht mehr wie eine Prinzessin: aufrecht, mit erhobenem Kopf. Sie schlurfte mehr dahin wie ein ziemlich elendes Schlossgespenst. Sie redete auch nicht mehr wie eine Prinzessin. Ihre Sprache hatte sich wie von selbst dem herben Ton von Le und den Menschen aus der Stadt angepasst. Nur hin und wieder entfuhr ihr noch ein Ausdruck aus der Sprache der Lords und Ladys - etwa Worte wie "vorzüglich" oder "reiche mir bitte".

Sie dachte nicht einmal mehr wie eine Prinzessin. Denn eine Prinzessin dachte keine Dinge wie: hoffentlich werde ich diesen Tag überleben (es sei denn, sie muss in einer Ratssitzung reden). Eine Prinzessin dachte über ihr Kleid, über den Krieg und die Frechheit der Aufständischen nach - ohne sich dabei zu fragen, wie es wohl sein würde, bei ihnen zu leben.

Kaum zu glauben, dass es kaum mehr als eine Woche her war, seit sie das Schloss hinter sich gelassen hatte, um in die weite Welt zu fliehen. Sie hatte das Gefühl, dass seitdem mehr passiert war als in ihrem gesamten Leben zuvor. Weshalb sie das getan hatte - weshalb sie ausgerechnet mit einem Rebellen durchgebrannt war - das verstand sie immer noch nicht so ganz.

Konnte es denn überhaupt irgendeinen vernünftigen Grund geben, weshalb eine Prinzessin ihr Leben im Überfluss wegwerfen würde, um sich täglich in Lebensgefahr zu begeben, das ganze Land nach ihr jagen zu lassen, auf dem Boden zu schlafen und von Les - eher spärlichen - essbaren Errungenschaften zu leben?

Sie konnte das nicht wissen. Schließlich war sie ja wie gesagt keine Prinzessin mehr. 

Immer noch suchte ihr müdes Gehirn nach neuen Worten - nach neuen Bezeichnungen, die das Wort „Prinzessin" ersetzen könnten. Da sie ihr ganzes Leben lang nie jemand anderes gewesen war als die Prinzessin, fiel es ihr immer noch schwer, sich in einer anderen Rolle zu sehen.

Geflohene. Flüchtling. Ausreißerin. Das waren die Worte, die ihr in den Sinn kamen. Aber eines hatte sich schleichend immer mehr in ihr festgesetzt, seit sie aus dem Schloss ausgebrochen war wie aus einem Käfig. Es schien auf ihrer Haut zu brennen wie das Brandmal, das Sklaven erhielten. Und es war ihr, als müsse jeder es sehen können, sobald er sie nur ansah. 

Verräterin. Sie war nun eine Verräterin.


Diese Gedanken waren das Einzige, was Dilara an diesem Tag wachhielt. Zwei Tage waren sie über die Mauer gewandert – ohne Schlaf, ohne Essen, ohne etwas zu trinken. Selbst Le ging nur noch gebeugt und erschöpft vor sich hin. Dilara aber schaffte es kaum mehr, einen Fuß vor den anderen zu setzen. 

Schlafen hätten sie dort oben sowieso nicht können. Sie hätten sich nur einmal zu weit zur Seite drehen müssen, und schon wären sie über hundert Meter in die Tiefe gestürzt. Deshalb waren sie die ganze Nacht lang durchgewandert. Am nächsten Nachmittag hatte Le dann beschlossen, dass sie von der Mauer herunterklettern mussten. 

Zu dem Zeitpunkt hatte Dilara gerade noch die Kraft gehabt, sich ein paar Gedanken darüber zu machen, dass sie nun den Wald betreten würden und was sie alles Unheimliches über den Wald gehört hatte. Aber nach dem Abstieg (einem riskanten und anstrengenden Hinuntergleiten zwischen Ästen und Mauersteinen) war von dieser Kraft nichts mehr übrig geblieben. Sie taumelte zwischen Wurzeln und Ästen hindurch, bemüht, die Augen offen zu halten. Die düsteren, hohen Bäume und die seltsamen Geräusche um sich bemerkte sie kaum. Der einzige Grund, weshalb sie nicht einfach zu Boden sank und einschlief, war der, dass Le einen Fluss erwähnt hatte, den sie suchen mussten. Ihre Kehle brannte vor Durst.

So wenig Dilara sich in diesem Moment als Prinzessin fühlte, gab es eben doch noch einiges, was sie lernen musste, wenn sie die nächsten Tage überleben wollte. Zum Beispiel durchzuhalten, auch wenn der ganze Körper nach Schlaf und Wasser schrie. Und auf ihre Füße zu achten. Sie stolperte bei jedem zweiten Schritt über eine Wurzel oder über ihr Kleid. Hin und wieder fiel sie der Länge nach zu Boden. 

Die Legende der Nachtigall 2 - Das Vermächtnis der ZwergeWhere stories live. Discover now