Dilara - Der Fuß des Berges

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Trotz aller Blätter war der Untergrund hart und unbequem und die Prinzessin wachte mit ebenso vielen Schmerzen auf wie am Tag zuvor. Nur ihr Arm schmerzte nicht. Er fühlte sich schwer und tot an. Dilara stellte fest, dass er angeschwollen war. Sie hatten den ganzen Tag über kein Gewässer gefunden, in dem sie die Wunde hatten waschen können. Ihre Kehle fühlte sich so trocken an, dass sie nicht einmal etwas von dem übrigen Flughörnchenfleisch frühstücken wollte - das sie ohnehin noch mehr ekelte, als der Vogel.

Sie waren kaum ein paar Schritte gegangen, da stellte Dilara ihre nächste Frage. Sie brannte ihr nun schon seit einem Tag unter den Fingernägeln (die inzwischen schrecklich dreckig waren). "Jetzt will ich endlich wissen, wie du zu den Rebellen gekommen bist."

Le befeuchtete seine Lippen mit seiner Zunge, bevor er zu erzählen begann. "Erinnerst du dich daran, dass ich dir von meiner Kindheit in den Bergmienen erzählt hab?", fragte er.

Dilara konnte sich nur noch vage an ihr Gespräch im Kerker erinnern. Zu viel war seitdem passiert. Aber sie wusste noch, wie schrecklich seine Schilderungen gewesen waren.

"Dein Bruder ist bei einem Unfall gestorben."

"Bei einer Explosion. Man weiß nie, ob das wirklich alles Unfälle waren", murmelte Le düster. "Jedenfalls kannst du vielleicht verstehen, dass ich schon immer eine Wut auf die Königin und ihre Männer hatte."

Ja, es war wohl verständlich, dass Untergebene immer ihren Übergeordneten die Schuld für ihr Leid gaben. Das war in jedem Land so. 

"Alle in den Bergen haben diese Wut."

"Wie die Männer von Rattendorf?"

"Nein. Damals gab es die Minen noch nicht so lange. Das Grauen ist über die Jahre gewachsen und der Zorn in den Herzen ebenfalls. Hätten die Rattendorfer heute gelebt und dieses Leid mit angesehen - sie wären vielleicht nur halb so feige gewesen. Aber die Angst ist zwischen den Gipfeln der Berge noch viel stärker als der Zorn. Sie ist so stark, dass viele noch nicht einmal wagen würden, schlecht über die Königin zu denken. Saufgelage gibt es keine mehr. Das aufmüpfige Gerede wurde ausgerottet. Seid der Rattendorfer Schlacht beobachtet die Königin die Menschen in den Bergen besonders genau. Es gibt kaum ein Wort, das wir unbeobachtet sprechen können."

"Aber du hattest diese Angst nicht?"

"Doch. Ich hatte furchtbare Angst. Ich wagte es nicht, den Wachen ins Gesicht zu blicken. Mein älterer Bruder hatte ihre Grausamkeit einmal herausgefordert und sich ihnen widersetzt. Damals war ich zu klein, um zu verstehen, worum es ging. Aber meine Familie hat jahrelang mit angesehen, wie er immer mehr an seinen Rückenleiden zugrunde ging. Sie hatten ihn so fürchterlich bestraft..."

Les Blick schweifte weit in die Ferne. Dennoch wichen seine Füße geschickt einer Wurzel aus.

"Aber dann kam der Tag, als mein Bruder starb. Es war nicht nur mein Bruder... er war mein Zwilling. Wir hatten unser ganzes Leben miteinander geteilt. Es fühlte sich an, als hätte mir das Leben jeden Sinn geraubt. Ich hatte auf einmal nichts mehr zu verlieren. Und wenn man nichts zu verlieren hat - dann ist auch alle Angst verschwunden. Es hätte mich nicht interessiert, wäre ich selbst gestorben."

Dilara hätte geschluckt, hätte sie noch Wasser in ihrem Mund dazu übrig gehabt.

"Aber ich habe nach etwas gesucht, was mir wieder Sinn gibt. Nach irgendetwas, was noch sinnvoll war. Und irgendwann bemerkte ich all die Menschen um mich herum. Sie waren nicht tot. Sie waren am Leben und litten weiter. Damals habe ich mir geschworen, für sie zu kämpfen. Ich hab mir geschworen, eines Tages für sie zu tun, was ich für meinen Bruder nicht tun konnte. Ich wollte für meine Mutter, meinen Vater, meine anderen Geschwister kämpfen. Und für jeden aus dem ganzen Volk. Denn wir litten alle am selben Schicksal. 

Die Legende der Nachtigall 2 - Das Vermächtnis der ZwergeWhere stories live. Discover now