Freundschaft

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Freundschaft

„Ich muss mit dir reden", kam es trocken von Mariko und ihr Pony verdeckte mir die Sicht auf ihre Augen. „Hm? Was denn?", fragte ich sie überrascht. Sie klang so anders... Als würde sie schon lange eine schwere Last mit sich rumtragen, nur darauf wartend, dass sie ihr endlich abgenommen wurde. Also hätte sie schon jahrelang darauf gewartet, ihr etwas zu erzählen. Sie holte tief Luft. 
„Da wir hier ja wahrscheinlich eh nie wieder lebend rauskommen werden, will ich es dir erzählen." 
Ich konnte mir ein lautes Schnauben nicht verkneifen. „Ja, dazu hast du hier jetzt alle Zeit der Welt."
Doch als ich ihren betroffenen Blick bemerkte und ich ihr ansah, dass sie das für keinen besonders guten Witz hielt, bereute ich es sofort und blieb still, während ich ihr zuhörte. 
Es schien ihr schwer zu fallen, mir das – was auch immer es war – zu erzählen, aber sie schien gleichzeitig auch sehr erleichtert und befreit, es endlich loszuwerden.
„Also..." Sie schien nach den richtigen Worten zu suchen, und fand sie auch bald, denn sie fuhr fort. 
„Ich wollte dir erzählen, warum. Warum alles so ist, wie es ist.
Ich bitte dich nicht um Entschuldigung für das, was ich dir bewusst angetan habe.
Ich bitte dich nur, mir zuzuhören." Ich sah sie erstaunt an, aber Mariko sah betroffen neben sich auf den kalten, trostlosen Boden.
Ich brachte kein Wort raus, aber ich wollte sie auch im Moment nicht unterbrechen, auch wenn mir so viele Fragen auf der Zunge lagen, ich wollte ihr einfach nur zuhören.
Sie klang so... anders, als sonst, wenn sie mit mir sprach.
Man hörte ihr genau an, dass sie nicht log und ihre Worte ernst gemeint waren, genauso, wie ich in meinem inneren genau wusste, wie Leid es ihr tat.
„Du warst immer alleine, seid der weiterführenden Schule, hast immer allein in der Ecke gesessen und ich habe dir alle Freunde weggenommen, indem ich Lügen über dich verbreitete."
Ich verkrampfte mich kaum merklich, aber sie spürte es. Dieses Thema mochte ich nicht besonders.
Nur ungern erinnerte ich mich daran zurück.
„Wir haben immer gestritten und du hattest von da an keine Freunde.
Ich will dir den Grund sagen. Ich war egoistisch und habe zu dem Zeitpunkt nur an mich selbst gedacht. 
Ich hatte eine Freundin. Kagami hieß sie, falls du dich an sie erinnerst. Aus der Grundschule."
Ihr Ton hatte sich stark verändert. Er klang jetzt nicht mehr schuldig und traurig, sondern kalt und bitter. 
Dies war wohl ein Thema, über das sie nicht gerne sprach. Ich blieb weiterhin stumm.
Ja, ich erinnerte mich an Kagami. In der Grundschule waren sie und Mariko unzertrennliche, beste Freundinnen gewesen.
Ich hatte sie eigentlich ganz nett gefunden, aber ich hatte meine eigenen Freunde. 
Zumindest noch zu dem Zeitpunkt. „Nun, sie hat mir in den Sommerferien vor der weiterführenden Schule mitgeteilt, sie würde in ein paar Tagen umziehen. 
Als sie mir das mitteilte, hat sie geweint, denn sie würde in ein anderes Land fahren, sodass wir uns nicht mehr treffen könnten. Wir würden uns nur noch schreiben und anrufen können, aber ihre Eltern waren arm und hatten nicht bleiben wollen. Sowieso sind Kagamis Eltern sehr beschäftigt und kümmern sich nicht um sie.
Sie hatte ihnen nicht wiedersprechen können, also hat sie mich, ihre beste Freundin, angefleht, ihr irgendwie zu helfen und ihre Eltern umzustimmen.
Tagelang habe ich recherchiert und letztendlich habe ich am Abend vor der Abreise schließlich einen Job gefunden, der in der Nähe war. Zwei Jobs sogar!
Es war zwar anderthalb Stunden entfernt von hier nach meiner Schätzung, aber wir würden uns treffen können. 
Ich habe es ihr nicht sofort per Telefon mitgeteilt, weil ich sie am Morgen hatte überraschen wollen. 
Ich hatte ihr überglückliches Gesicht sehen wollen, dass mir strahlend um den Hals fällt und mir mitteilt, dass ihre Eltern mit meinem Vorschlag einverstanden sind, aber als ich am nächsten Tag zu ihrem Haus kam..."
Sie stockte und holte tief Luft. Dann fuhr sie mit bitterer Stimme fort.
„...da waren sie weg. Einfach weg. Und vor ihrer Tür lag ein Zettel für mich von Kagami, in dem sie mir erklärte, ihre Eltern hatten den Plan ein wenig geändert und waren schon vorher mit ihr abgefahren. Und ich hatte nicht einmal Zeit mich von ihr zu verabschieden."
Wieder stoppte sie mitten im Satz und ihre Stimme war brüchig geworden.
Sie fing zu meinem Entsetzen an zu weinen. Meine ehemalige Feindin so zu sehen...
Mittlerweile fand ich sie doch eigentlich ganz nett, aber der Anblick ihres gequälten Gesichtsausdruckes gab meinem Herzen einen Stich. Ich wollte sie in den Arm nehmen und sie trösten, sie beruhigen, aber ich saß nur da und starrte sie an, ohne irgendetwas zu machen.
„Und bald darauf schrieben wir auch nicht mehr miteinander. Ich weiß nicht warum, aber es ist allein meine Schuld, dass sie weggehen musste, obwohl sie doch so unbedingt hatte bleiben wollen!
Dafür habe ich mich unendlich gehasst und wollte mich selbst dafür bestrafen, dass Kagami wahrscheinlich nicht glücklich war und ich sie im Stich gelassen habe.

Ich wollte an mir selber Rache nehmen, also beendete ich meine Freundschaft zu dir und nahm dir alle Freunde. Du warst nach Kagami meine mir wichtigste Freundin, Shina, und deshalb warst du das Opfer.

Weil mir das am meisten wehtat, dich zu verletzen.
Ich nahm dir alle deine Freunde, um mich selbst zu bestrafen und, weil ich hoffte, da wäre dann jemand, der meinen Schmerz verstehen könnte, damit ich mich nicht mehr alleine fühlen muss..."
Meine Augen waren so weit geöffnet, dass es schon wehtat.
Sie schüttelte heftig den Kopf und noch mehr Tränen kullerten ihr die Wangen hinunter und tropften auf ihre Hose. 
Ich starrte sie schon eine Weile verschreckt an, als hätte ich einen unheimlich gruseligen Vampir gesehen, der mich töten wollte
. Sie weinte wieder und während sie sprach, kullerten ihr weiterhin dicke Tränen über die Wangen.
Ein Schatten legte sich über meine Augen.
„Es tut mir so schrecklich Leid, Shina! Ich habe dir das alles angetan! Alles, was ich in meinem Leben getan habe, war ein einziger großer Fehler, der nicht mehr ausradiert werden kann! Ich habe alles falsch gemacht und vielleicht ist es sogar besser, wenn ich hier verrotte, weil ich dann niemandem mehr schaden kann und keine Fehler machen kann und..." 
Sie hatte ruckartig aufgehört und auch die Tränen hatten für einen Moment lang inne gehalten.
Mariko riss die Augen auf.
Ich hatte sie in den Arm genommen und feste an mich gedrückt.
Es war so viel wärmer im Raum geworden und die Umarmung war eine Wohltat in den kalten Minusgraden hier drin.
„Ist gut, Mariko. Hör auf, du bist nicht allein", flüsterte ich leise und mit sanfter Stimme in ihr Ohr.
Ein leises Lächeln huschte über meine Lippen, aber Mariko konnte es nicht sehen, da ich sie fest umarmte.
„Jetzt musst du nicht mehr weinen, denn ich stehe dir zur Seite."
Am liebsten hätte ich mich geohrfeigt. Wurde ich jetzt irgendwie verrückt oder so? ‚denn ich stehe dir zur Seite...' das war mit Abstand der älteste Spruch, der mir hätte einfallen können, oder? Dabei hasste ich solch kitschigen Kram doch eigentlich... Egal, jetzt war es nun mal raus und so schlecht klang es nun auch wieder nicht.
„Mariko... Danke."
„Was?"
„Danke, dass du meine erste Freundin seid jenen Sommerferien bist. Vielleicht können wir beide nun endlich richtig lächeln", meinte ich und das Lächeln auf meinen Lippen kam mir vor wie mein allererstes Lächeln seid Jahren.
Es kam mir wie ein richtiges Lächeln vor. Ein Lächeln meines Herzens. 
Und ich war dankbar für diesen Moment, denn allein diese Umarmung wärmte mein schwaches Herz und machte mich unendlich glücklich. 

Und da standen sie voreinander und das kleine, achtjährige Mädchen Shina lächelte die achtjährige Mariko an,
die vor ihr kauerte und geweint hatte. Shina lächelte sie an und hielt ihr dann eine Hand hin. 
Mariko starrte ungläubig auf die Hand, die ihr das kleine Mädchen hinhielt. 
„Komm!", rief Shina, während Mariko nur weiterhin überrascht auf ihre Hand sah.
Dann lächelte sie, nickte und ergriff ihre Hand, um sich hochhelfen zu lassen.

Akatsuki - reale MassenmörderWo Geschichten leben. Entdecke jetzt