Kapitel 30

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AZRIEL

Wäre heute nicht der Tag, an dem die Höhlenstadt in Verlaris eintraf, wären meine Gedanken allein bei Melany. Seit bloß einigen Stunden waren wir voneinander getrennt. Es war wie jeder andere Tag auch: Weder flog ich mit ihr zu meinen Missionen noch saß ich den ganzen Tag im Archiv bei ihr. Wir hatten uns auch in den letzten Wochen oft tagelang nicht gesehen. Und doch war es diesmal anders. Die alleinige Tatsache, dass ich sie nicht einfach besuchen könnte, wenn ich wollte; dass sie nicht plötzlich im Stadthaus auftauchte oder mit Elain im Stadtcafé Tee trank - All das verursachte diese ziehende Sehnsucht nach meiner Seelengefährtin.

Eine Sehnsucht, die ich aufgrund der heutigen Ereignisse jedoch verdrängen müsste. Denn sobald Mor mit Mel und Nova durch den Wind gegangen war, hatte Rhysand mich, Feyre und Cassian ins Haus der Winde beordert. Und wie üblich bedeutete solch ein Meeting nur, dass es ernste Angelegenheiten gab, die besprochen werden mussten. Angesichts der heutigen Gäste war ich aber nicht verwundert. Ich war bloß überrascht, dass bei unserem Meeting Amren fehlte. Nach einer Stunde kehrte auch Mor zurück. Ich bekam jedoch nicht die Möglichkeit, sie nach den wenigen Details auszufragen, bevor Rhysand zur Krisenbesprechung überging.

»Wir haben es ihnen nicht ausdrücklich verboten«, sagte Feyre und drückte sich zwei Finger an ihre rechte Schläfe. Mit geschlossenen Augen saß sie neben ihrem Seelengefährten. Mor verdrehte die Augen, was Feyre natürlich nicht hätte sehen können. Aber Rhys hatte es gesehen und warf ihr einen mahnenden Blick zu.

»Gut, es wurde ihnen nicht ausdrücklich verboten, aber dieses Haus muss ihnen dennoch weggenommen werden«, warf Mor ein.

Rhys schüttelte den Kopf, während ich den Wahrsager in meiner Hand inspizierte. »Es könnte zu unserem Vorteil sein.«

»Wie das?«, fragte Cassian. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt und sich an eine Marmorsäule angelehnt.

»Velaris gehört mir«, sagte Rhys nur. Cassian, der noch immer verwirrt dreinschaute, lockte jedoch keine weiteren Worte aus unserem Bruder heraus.

Seufzend erhob ich das Wort. »In der Höhlenstadt hatte Keir das Sagen. Auch wenn Rhys der High Lord ist«, sagte ich und steckte den Wahrsager zurück. Mit langsamen Schritten ging ich auf das Sofa zu, auf dem Feyre saß und lehnte mich so dagegen, sodass ich Cassian direkt anschauen konnte. »Aber in Velaris hat Keir keine Macht. Das heißt, er ist Rhysands Beorderungen untergeordnet. Und falls er sich dagegen stemmt, wird der Vertrag ungültig.«

Mor schnaubte. Als mein Blick zu ihr huschte, sah ich, wie sie mit einem schiefen Lächeln den Boden ansah. Sie schien genauso überrascht wie auch erfreut darüber zu sein, dass Rhys zu dieser Erkenntnis gekommen war.

»Gut«, sagte Cass seufzend und stieß sich von der Säule ab. »Dann bist du jetzt der Boss von Keir, Rhys. Aber was hat er, das wir brauchen könnten? Wieso sollte es zu unserem Vorteil sein?«

»Wir müssen noch immer herausfinden, was vor einigen Monaten auf den Inseln passiert ist.« Rhys meinte damit die fehlgeschlagene Mission, bei der ich vergiftet wurde. Ich drückte den Rücken durch und verschränkte die Arme vor der Brust. Auch wenn niemand direkt in meine Richtung schaute, wusste ich doch, wie die Aufmerksamkeit im Raum verlagert wurde.

Feyre stand von ihrem Platz auf und Rhys folgte ihrem Beispiel. »Ich denke, wir sollten dem Lord der Unterwelt mal einen Besuch abstatten und fragen, was er über Hexer - oder Zauberer oder was auch immer Az vergiftet hat - in Prythian weiß. Er hat doch seine Spione überall in der Welt verteilt.«

Rhys nickte. Der Plan stand also. Mor schlug sich auf die Knie, während sie theatralisch aufstand und ihr blondes Haar über die Schultern warf. »Viel Spaß dabei.« Und mit einem Windhauch war sie verschwunden.

Der Ruf des SchattensängersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt