Kapitel 1

1.7K 39 4
                                    

MELANY

Es war wieder die Dunkelheit, die sich in meinem Inneren breitmachte. Das samtige Streicheln über meine Sinne, meinen Körper, mein Herz. Nicht wie sonst in meinen Träumen, kalt und unerbittlich. Trotz der Sänfte. Normalerweise war es wie das Gefühl von der Kälte ins Warme zu treten und überall am Körper Gänsehaut zu bekommen. Doch diesmal war es anders. Diesmal schmerzte diese Dunkelheit. Sie breitete sich über mich aus und zwang mich in die Knie. Schnitt mir die Luft ab. Saugte jede Wärme aus meinem Körper. Hinterließ die Kälte von einem großen, allesverschlingenden Nichts.

Wie vom Wind getroffen fiel ich auf den Stuhl neben mir und umklammerte die Armlehne. Es würde mich nicht wundern, wenn sich dieselbe kalte Blässe in meinem Inneren auf meinem Gesicht widerspiegelte. Langsam hob ich den Blick von meinen zitternden Beinen zu meiner Cousine. Der Ausdruck in ihren Augen verriet mir, dass ich mit meiner Vermutung Recht behielt: Ich sah genauso aus, wie ich mich fühlte. Die Flügelstümpfe an ihrem Rücken zuckten, als sie den Arm in meine Richtung ausstreckte und nach meiner Schulter greifen wollte. Ich wich instinktiv zurück. In meinen Ohren rauschte das Blut und schien eine Symphonie mit meinem flachen Atem zu spielen. Wieder durchfuhr mich eine Gänsehaut und meine Augen füllten sich mit Tränen.

»Morgen?«, fragte ich. Das Kratzen in meiner Stimme verriet mir, dass ich das Wort auch tatsächlich ausgesprochen hatte. Im Moment verschwammen die Grenzen zwischen Realität und Fantasie.

»Ja.«

»Morgen...« Mehr wagte ich nicht über die Lippen zu bringen.

»Melany, wir wussten, dass es bald soweit sein würde.« Die Sanftheit in Novas Stimme erreichte nicht ihre Worte. Wie konnte eine so melodische Stimme bloß solch grausame Worte von sich geben?

Ich schüttelte nur den Kopf. Wie als würde ich jeden Moment aufwachen. Vom Alptraum, der sich inmitten von Velaris zu ereignen schien. Doch als auch das Kopfschütteln nichts brachte, kniff ich die Augen zusammen und verstärkte meinen Griff um die Armlehne. Ich musste fliehen, das war meine einzige Lösung. Die einst beschützte Stadt würde dem Untergang geweiht sein. Ich war nicht bereit, dies mit anzusehen.

Langsam hob ich mich aus dem Stuhl, darauf bedacht, nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Nova machte einen Schritt auf mich zu und wollte helfen, doch ich schüttelte bloß wieder den Kopf. Sie zog ihre Arme zurück und ging auf ihren vorherigen Platz zurück. Die Küche, in der wir standen, war klein und viel zu überfüllt mit Möbeln. Die salbeifarbenen Küchenthresen schmückten zwei der vier Wände. Über ihnen ragten Kabinen mit denselben Farben. Die eingravierten Blüten und Ranken schienen mich gerade jetzt mit ihrer Fröhlichkeit zu verspotten. Blaue und pinke, violette und gelbe Verzierungen. Sie fanden sich überall wieder. Auch auf den Tüchern und der Tischdecke. Der Tisch an dem Nova lehnte hatte zwar keine Verzierungen, doch die Glaßplatte auf den Beinen aus hellem Holz reflektierte die Sonnenstrahlen, die aus dem Fenster in die Küche fielen. Sie schimmerten in den unterschiedlichsten Farben. Wie das Regenbogenviertel die Straße hinunter. Was würde wohl damit passieren, wenn erst einmal die Nacht vorbei war und der Morgen anbrach? Würden auch seine Farben verblassen, wie damals jene in meinem Leben?

»Der High Lord hat eine Übereinstimmung getroffen«, setzte Nova an und verstummte, als mein Blick zu ihr schnellte. Nach einem weiteren Moment der Stille fuhr sie schließlich unbeirrt fort. »Und wir müssen dieser Entscheidung Respekt erweisen. Wir haben keinen Einfluss darauf.«

»Das erklärt aber nicht, was der High Lord gedenkt zu tun, falls Velaris dem Feind in die Hände fällt«, entgegnete ich ihr mit einer Schärfe in der Stimme, die mich meine zitternden Gliedmaßen vergessen ließ.

»Sie sind Monster, aber nicht unsere Feinde.«

»Sie sind Ungeheuer, wie jene, die sich in den Gefängnissen am Rande des Hofes befinden!«

»Wäre dem so, Melany«, sagte Nova nun weitaus ruhiger, »wären wir ebenso Ungeheuer. Was unterscheidet uns großartig von unseren Erzeugern?«

Schnaubend rollte ich mit den Augen. Die Wut schien mir meine Kraft wiederzubringen. Als Nova erneut was sagen wollte, machte ich eine wegwerfende Handbewegung und ging zum Fenster. Die plötzliche Helligkeit von der untergehenden Sonne traf mich unvorbereitet. Ich verzog mein Gesicht und schloss die Augen, bis die Dunkelheit in mir schmerzlich zurückwich.

»Das was uns von ihnen unterscheidet, sind die Wunden an deinen Flügeln und in meinem Herzen«, sagte ich leise. »Oder das was von ihnen übrig geblieben ist.« Die Luft schien sich vibrierend zurückzuziehen. Es war ein Thema, das nicht oft angesprochen wurde, doch diese Umstände waren nicht normal. Sie waren nicht der Alltag. Nova räusperte sich im Hintergrund. Es schmerzte zu hören, wie eine solche banale Antwort auf meine Worte, so viele Gefühle offenbaren konnte. Gefühle, die nur eine Illyrianerin mit gestutzten Flügeln haben konnte. Oder eine High Fae mit einem schwarzen Loch statt einem Herzen, wie es bei mir der Fall war.

»Ich wünschte nur, es wäre anders«, sagte ich schließlich leise. Das Rascheln von Kleidung hinter mir schien eine Bestätigung von Nova zu sein. Denn sie blieb still. Wenn Nova nichts mehr zu sagen hatte, dann waren Wörter nicht mehr genug. Und wenn Wörter nicht mehr reichten, was war dann noch zu tun?

Wieder verging ein stummer Moment ohne jegliche Zeichen, ob Nova sich bereits entfernt hatte oder nicht. Als sich dann aber schließlich Arme um mich legten und mich in eine feste Umarmung zogen, fing das Zittern wieder an. Nova lockerte ihren Griff ein wenig, sodass ich mich zu ihr drehen, und ebenfalls meine Arme um sie legen konnte. Die Gefühle, die sich in meinem Innersten versteckt hatten, bahnten sich einen Weg in die Freiheit und hinterließen schmerzliche Spuren zurück. Sie drückten sich in Tränen aus, die die beige Bluse meiner Cousine nässten. Andere verwandelten sich in ein Zittern und wieder andere drückten gegen meine Schläfen und machten sich in Kopfschmerzen bemerkbar. Doch nichts davon linderte das Glühen; nichts vermochte die lodernden Flammen der Erinnerungen zu ersticken.

Als ich heute morgen aufwacht war, hätte ich nie mit der schrecklichen Nachricht gerechnet, mit der mich Nova in der Küche überfallen hatte. Die ersten Zeichen des Frühlings hatten sich bemerkbar gemacht, Vögel hatten gezwitschert und Winde den Geruch von frischem Gras umhergetragen. Es war ein wunderschöner Morgen gewesen. Ich liebte den Frühling. Nun, jetzt wo Stunden seit unserem Gespräch in der Küche vergangen waren, lag ich im Bett. Die Dunkelheit war schon eingebrochen, sowohl in der Welt, als auch in meinem Inneren. Es hätte ein schöner Tag werden können.

Dem Hof des Alpträume wurde gewährt, nach Verlaris zu kommen. Meiner Mutter wurde gewährt, einen Fuß in den Ort zu setzen, das mir Schutz gab. Der Entschluss war zwar schon vor einigen Monaten gefallen, schon vor dem Krieg mit Hybern, doch es wurde nie ein Datum festgelegt. Der morgige Tag war einer von vielen, die nun auf uns zukommen würden.

Es wirkte zwar kurzfristig, aber anscheinend war das so vorgesehen. Novas Vermutung war, dass High Lord Rhysand und High Lady Feyre verhindern wollten, dass sich die Bewohner der Höhlenstadt auf die Reise nach Velaris vorbereiten konnten. Zumindest nicht so sehr, wie diese hinterhältigen Biester es vermutlich getan hätten, wäre mehr Zeit vorhanden gewesen. Es änderte nichts an der Tatsache, dass morgen die schöne Stadt unter den Sternen mit der Bosheit der Höhlenmenschen gefüllt werden würde. Aber es hinterließ bei mir trotz allem eine kleine Woge der Schadenfreude. Die sonst so organisierten und intriganten Menschen dort unten würden sich sicherlich nicht über diese kurzfristige Terminvergabe freuen. Wüsste ich nicht, dass sie trotz allem morgen durch die schönen Straßen Velaris' laufen würden, hätte ich vielleicht sogar gelächelt.

Aber das einzige was mir im Moment engegenlächelte, war die Dunkelheit meines Zimmers. Ich hatte alle Kerzen ausgemacht, die Vorhänge zugezogen und mich der ewigen Nacht hingegeben. Es hätte gerne so bleiben dürfen. Die samtige Dunkelheit, die ich mir aussuchte. Jene, in die ich mich freiwillig begab. Sie wurde mir nicht aufgezwungen. Und so schloss ich die Augen und versank noch tiefer in die Dunkelheit, die mir einst so zuwider war. Diese Dunkelheit war sanft und wog mich in den Schlaf. Berührte die wunden Stellen an meinem Herzen, schien sie wie eine Salbe zu pflegen. Wie Verbände einzuwickeln. Ganz ohne Druck. Weich. Sicher...

Der Ruf des SchattensängersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt