Kapitel 4

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MELANY

Der Tag würde schlimm werden. Nicht nur, weil ich nach dem Frühstück meinen gesamten Mageninhalt wieder erbrochen hatte. Nicht nur, weil ich auf dem Weg zur Arbeit mein Kleid aufgerissen hatte, sodass es nun noch kürzer war als zuvor. Sondern auch, weil der Countdown für das Ankommen der Höhlenstadt lief. Fünf Stunden, 46 Minuten und 12 Sekunden. 11 Sekunden. 10 Sekunden. 9. 8. 7...

Ich klappte das Buch schwungvoll zu. Das dumpfe Geräusch hallte wie ein Echo durch das Archiv. Es war verlassen und keiner war zugegend. Seufzend breitete ich meine Arme auf meinem alten Schreibtisch aus Kirchholz aus und legte die Stirn auf den Wälzer vor mir. Das Leder des Einbands war angenehm kühl. Ich wünschte, die Leere in diesem Archiv wäre wie die Leere in meinem Kopf. Doch so angenehm ruhig und sanft die Stille in diesem Gebäude war, so laut und unheimlich war die Stille in meinem Kopf. Laute Stille... das beschrieb die Lage wirklich gut.

Ich atmete den Duft von alten Büchern ein, ließ ihre magischen Kräfte auf jeder Seite auf mich einwirken. Zumindest die Kräfte, die durch die Schutzzauber nicht unterdrückt wurden oder mich vernichten könnten, wenn ich sie auf mich einwirken ließ. Nichts half jedoch dieses beklemmende Gefühl in meiner Brust, die Enge um mein rasendschnelles Herz zu mildern. Stattdessen fing ich nun an zu zittern, was meinem Gemütszustand absolut keine Hilfe war.

Mel, beruhige dich. Du hast noch Zeit. Und bis sie da sind, bist du wieder zuhause. Die Worte, die ich in Gedanken an mich selbst richtete, brachten gar nichts. Absolut nichts. Stattdessen führten sie nur dazu, dass ich mich noch elender fühlte. Weil ich nach all den Jahren immer noch zuließ, dass mich allein der Gedanke an meine ehemalige Heimat so sehr aus der Ruhe brachte. Diese verdammte Vergangenheit, der ich schon so lange entfliehen wollte. Diese verdammten Fae, die sich zu Unrecht „Familie" nannten.

Ein plötzliches Klopfen ließ mich zusammenzucken. Das Leder des Einbands wurde durch meine Stirn gewärmt und klebte deshalb an meiner Haut. Als ich hochfuhr, klebte das Einband an meiner Stirn, fiel aber in der nächsten Sekunde jedoch wieder zurück und schloss das Buch. Ich war mir auch ohne Spiegel bewusst, dass sich auf meiner Stirn ein eckiger roter Abdruck befand. Wie als wäre ich auf den Büchern eingeschlafen. Brummend rieb ich mir die Stirn, die von der Textur des Leders eigenartig rau war. Ein weiteres Klopfen ließ mich schnell auffahren.

Auf dem Weg zur Tür im Erdgeschoss - ich nahm die Wendeltreppe nach oben - zog ich mein zerrissenes Kleid zurecht. Ich hatte keine Wechselklamotten. Das hieß, ich müsste den ganzen Tag mit dem dunkelblauen Kleid rumlaufen, das am hinteren Teil des Saumes ausgefranst war. Zum Glück bedeckte es noch alles wichtige, was es zu bedecken gab. Mit klappernden Absätzen meiner Schuhe lief ich die metallenen Stufen nach oben, durchquerte das Foyer mit Bücherregalen an allen Wänden und schloss die Eichentür zum Archiv auf.

„Nesta", sagte ich und zog überrascht die Augenbrauen hoch. Die hübsche Fae mit den kupferfarbenen Haaren stand mit eisernem Gesicht in der Tür und verschränkte die Arme vor der Brust. Ich brachte kein weiteres Wort über die Lippen.

„Seit wann arbeitest du vormittags?", fragte sie mich. Auch sie ließ die Begrüßung weg.

Die Absurdität ihrer Frage ließ mich kurz stutzen. Es waren die ersten Worte von ihr, die ich seit Monaten gehört hatte. „Ich dachte, ich bräuchte heute vielleicht eine Abwechslung."

Sie nickte. Nur ein Zeichen, dass sie mit der Antwort zufrieden war. Ich ging nicht davon aus, dass sie verstand, was der Grund für die Abwechslung war.

„Willst du nicht reinkommen?", fragte ich sie unsicher und machte einen Schritt zur Seite. Sie nickte erneut und kam zögernd hinein. Ich erhaschte einen Blick in ihre hellen Augen. Die Eiseskälte in ihrem Gesicht war nichts im Vergleich zu dem, was in ihren Augen brannte. Es war ein unglaublich brennendes Eis. Nur Nesta konnte einen Blick in ihren Augen beherbergen, der so widersprüchlich und doch genau so war, wie es schien.

Der Ruf des SchattensängersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt