Kapitel 6

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MELANY

Zwei Stunden nach meinem Gespräch klopfte es wieder an der Tür. Verwundert stand ich von meinem Platz auf und griff im Gehen nach dem dünnen, bodenlangen Samtmantel neben den Treppen. Ich zog ihn an, während ich mit schnellen Schritten in das Foyer trat. Das Klopfen wurde hektischer und lauter. Mit einem lockeren Knoten schloss ich meinen Mantel und öffnete dann die Tür. Der Illyrianer, der gerade erneut zu einem Klopfen ausholen wollte, stoppte mitten in der Bewegung. Mit weit aufgerissenen Augen sah ich den Mann mit den kurzen blonden Haaren ins Gesicht.

»Miss Melany Abbog?«, fragte mich der Mann und senkte endlich seine Hand.

Ich nickte und machte die Tür noch einen Spalt weit auf. »Die bin ich.«

»Ihre Cousine Nova Vigess schickt mich unter dem Befehl von General Cassian.« Meine Augen weiteten sich. Es war irgendwas passiert. Irgendwas musste passiert sein. Wieso sonst würde mich Nova schicken? Vor Allem mit dem Befehl von Cassian, dem Oberkommandeur der Streittruppen? Meine Atmung flachte ab und die Ränder in meinem Blickfeld verdunkelten sich.

»Ist irgendwas-«, setzte ich mit krächzender Stimme an und verstärkte meinen Griff um die Türklinke.

»Nein«, sagte der Illyrianer und seine ernste Miene wurde etwas sanfter. Die Flügel an seinem Rücken zog er noch weiter zusammen - wie als würde er versuchen, dadurch mein Gemüt zu beschwichtigen. Es nützte nichts. »Auf Befehl sollen keine Familien der Ratsmitglieder und Staatsmitarbeiter das Haus heute verlassen. Assistant Agent Nova hat General Cassian mitgeteilt, dass Ihr nicht zuhause seid. Ich wurde geschickt, um Euch zu bitten, sobald wie möglich aufzubrechen.«

Ich bat den Soldaten mit einer Handbewegung rein und schloss die Tür hinter ihm. »Ich muss nur eben die Türen verschließen.« Er nickte zur Bestätigung. Ich lief nach oben, schloss dort die Tür ab und ging dann die Treppen hinunter in den Keller. An meinem Schreibtisch angekommen nahm ich mir einige Sekunden Zeit, außerhalb des Blickfeldes des Illyrianers im Foyer, aufzuatmen. Ich musste Ruhe bewahren. Ich hätte heute zuhause bleiben sollen. Aber ich hatte darauf bestanden, zu gehen. Und jetzt würde ich vielleicht direkt in die Arme meiner Mutter laufen.

»Miss?«, ertönte die Stimme des Soldaten. Sie klang nun wieder genauso ernst wie zuvor. Er hatte es eilig, natürlich. Ich griff schnell nach meiner Tasche und lief mit schnellen Schritten die Treppen wieder nach oben. Ich schloss die Tür mit dem Schlüssel und blickte dann so unauffällig wie möglich zu dem Illyrianer, nur ein kurzer Blick über die Schulter. Schützend stellte ich mich mit meinem Rücken zu ihm auf und ließ die Hand unauffällig über die Türklinke wandern. Das gleißend helle Licht kam nur in sachten Wellen über meine Hand. Ein leises Pling bedeutete mir, dass der Schutzzauber wirkte.

»Ist Lord Keir schon eingetroffen?«, fragte ich schnell als der Illyrianer und ich nun durch das Foyer schritten und die Eichentür nach draußen durchquerten. Er nickte kaum merklich und seine Miene verdüsterte sich.

»Sie sind vor einer Stunde im Haus der Winde angekommen.« Wieder ließ ich meine Magie wirken, so unaffällig wie nur irgend möglich. Der Illyrianer hatte sich ungeduldig zur Straße gewandt, wie als würde er zugleich Wache halten wie auch meine Wenigkeit begleiten. Als auch hier ein leiser Ton ertönte, griff ich mit einer Hand nach der Tasche auf dem Boden und stellte mich neben den Soldaten.

»Können wir?«, fragte er mich. Mein Gesichtsausdruck ersetzte die Frage, die mir auf der Zunge brannte. »Ich begleite Euch nach Hause.« Er breitete die Flügel aus, woraufhin ich einen Schritt zurück machte. Ich versuchte krampfhaft meinen Puls zu beruhigen und meine Hände am Zittern zu hindern.

Der Ruf des SchattensängersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt