Kapitel 5

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AZRIEL

"Hast du soweit alles vorbereitet?" Rhysand lief schon den ganzen Tag mit diesem nervösen Blick durch die Gegend. Nicht ein einziges Mal hatte er sich die Zeit genommen, um sich hinzusetzen und zur Ruhe zu kommen. Stattdessen kommandierte er nur alle herum und ließ sie Dinge erledigen. Schon zum vierten Mal fragte er mich, ob ich denn alles soweit vorbereitet hätte. Hatte ich. Und das wusste er. Deshalb antwortete ich ihm auch nicht auf diese Frage.

Das schien Rhysand nicht einmal zu bemerken. Denn sobald die Worte seine Lippen verlassen hatten, war er bereits drauf und dran, den nächsten Wächter an das andere Ende der Stadt zu schicken. Vermutlich, um noch mehr Sicherheitsvorkehrungen zu treffen. Entnervt schüttelte ich nur den Kopf, als der Wächter etwas sagen wollte. Wir brauchten keinen Streit, schon gar nicht, wenn der High Lord sich nur schwer auf dem Boden hielt.

"Liebling..." Feyres Stimme war das genaue Gegenteil von dem, wie Rhysands seit Sonnenaufgang klang. Diese Sänfte und Liebe - all die Liebe - war ein verzweifelter Versuch, ihren Seelengefährten zur Ruhe zu bekommen. Rhy blickte auf, seine dunkelvioletten Augen auf die High Lady gerichtet. Ein sanftes Lächeln seitens Feyre und eine ausgestreckte Hand: Mehr brauchte es nicht, um sein Gemüt zu beruhigen. Mit vor Erschöpfung hängendem Kopf und langsamen Schritten ging er auf sie zu und legte die Arme um sie. Ich drehte mich verlegen zur Seite und richtete den Blick aus dem Fenster.

"Achte darauf, dass ich Keir nicht den Kopf abreiße", sagte Rhysand mit gedämpfter Stimme. Ich vermutete, dass er noch immer sein Gesicht in Feyres Haare drückte. Ein leises, wenn auch angespanntes Lachen erklang.

"Versprochen", erwiderte Feyre. "Auch wenn das ein für alle Mal die Frage klären würde, ob es eine gute Idee ist, die Höhlenstadt nach Velaris zu lassen."

Selbst ich konnte mir bei dieser Bemerkung ein kleines Grinsen nicht verkneifen.

"Az." Ich drehte mich wieder zu Rhys, der mich nun wieder aus ernsten Augen ansah. Ich kam nicht umhin, ein wenig Neid zu empfinden. Es war so leicht! Eine beruhigende Umarmung seiner Seelengefährtin hatte ausgereicht, um ihn wieder zu dem ernsthaften und ehrfürchtigen High Lord zu machen, der er sonst auch immer war. Ein kleines Ziehen in meiner Brust ließ mich schlucken. Seelengefährtin; ein Wort, das vermutlich niemals meine Lippen verlassen würde. Zumindest niemals, um eine Frau anzusprechen.

Ich tat Rhysand den Gefallen. "Ich habe alles vorbereitet." Rhys nickte zufrieden. Ich baute mich kampfbereit vor ihm auf und verschränkte die Hände hinter dem Rücken.

"Gut", sagte Rhys und nickte erneut. "Cassian wird die Lage von oben beobachten. Er hat die Illyrianer verständig. Sie werden einige Minuten nach Keirs Gefolgschaft eintreten."

Er wollte sie in Sicherheit wiegen, das Bild eines unbekümmerten Treffens geben. Das war das, was er eigentlich sagen wollte. Aber ich verstand ihn auch ohne die direkten Worte. Ein Blick in Feyres selbstgefälliges Lächeln zeigte mir, dass auch sie verstand. Meine High Lady legte eine Hand an Rhysands Arm und sah zu mir.

"Ich möchte, dass du den Ratsviertel bewachst, Az. Die Familien der Ratsmitglieder und Informationen, die bei ihnen zu Hause aufbewahrt werden, werden schutzlos zurückgelassen. Nimm dir ein paar der Wachen und lass sie dort an jede Kreuzung postieren." Ich nickte. "Und achte darauf, dass sich keiner von Keirs Freunden dorthin verirrt."

Ich nickte erneut, ehe ich zu Rhys schaute, der mit einem Blinzeln die Erlaubnis gab, mich zurückzuziehen. Ich verließ das Zimmer und schließlich durch die große Marmortür die Flussvilla. Mit weit ausgebreiteten Flügeln schwang ich mich in die Lüfte, auf direktem Wege zum Haus der Winde - Dort würde das Treffen stattfinden. Einige Wachen warteten dort, um weitere Anweisungen zu bekommen. Und die war ich gewillt, ihnen zu geben.

Die Sonne hatte bereits seinen Weg über den Himmel gebahnt und kündigte den Nachmittag an. Sie schien unerbittlich am blauen Himmel, wie als würde sie uns darauf hinweisen, dass alles bald in Flammen aufgehen könnte, wenn wir nicht aufpassten. Der Frühling schien an diesem Nachmittag einen Vorgeschmack auf den kommenden Sommer zu geben. Ich spürte bereits einen feuchten Film unter meiner Kampfmontur.

Meine Schatten bahnten sich durch die Straßen einen Weg zu mir und verdeckten meine untere Gesichtshälfte. Ein leises Flüstern, so leise wie die Nacht selbst, gab mir zu verstehen, dass Cassian die Illyrianer an den Bergspitzen hinter der Sidra bereit hielt. Ein weiteres, genauso sanftes Flüstern direkt in meinem linken Ohr, berichtete über die aufgestellten Wachen im Ratsviertel. Alle waren auf Position, selbst die Kinder schienen sich an den Plan zu halten, das Haus nicht zu verlassen. Einige Passanten an den Straßen bekamen große Augen beim Anblick der Hofwachen und beschleunigten ihre Schritte. Es sollte zwar alles normal wirken, aber nicht normal sein. Die meisten würden sich auf dem kürzesten Weg nach Hause begeben - keiner sollte auf den Straßen sein, der sich im schlimmsten Fall nicht verteidigen könnte.

Ich machte einige Schritte durch die große Provinizialstraße entlang der Sidra, die auf direktem Weg auf den Marktplatz führte zu meiner rechten, und zum Ratsviertel zu meiner linken Seite. Alles schien genau so zu verlaufen, wie es verlaufen sollte. Meine Schatten umwirbelten meine Hände, als ein weiterer, kürzerer Schatten auf mich zuflog. Es war kaum merklich zwischen den Schatten der Backsteinpflaster des Weges.

Sie treffen ein. Es war also soweit. Erneut entsendete ich einige Schatten in die Stadt, damit ich überall Augen und Ohren hatte, überall wo ich konnte, eingreifen würde, sollte es die Situation erfordern. Wieder entfaltete ich meine Flügel und ließ mich mit einem kräftigen Ausfallschritt in die Lüfte heben. Nur so weit, wie die Dächer der Häuser es zuließen, flog ich durch die Lüfte und kam geschmeidig hinter Rhysand und Feyre auf dem Boden auf, die bereits auf der Terrasse des Haus der Winde warteten.

"Sie sind eingetroffen", sagte ich schnell. Rhysand nickte zur Bestätigung.

"Cassian?", fragte mich Feyre.

"Er wartete hinter der Sidra."

"Du bleibst hier, bis das Treffen vorbei ist. Danach möchte ich, dass du dich auf direktem Wege zum Ratsviertel begibst." Rhysands Stimme klang klar und ernst, wie es das Image des bösen High Lords des Nachthofs erforderte. Wir würden wieder unsere Rollen einnehmen - nur war diesmal Mor nicht an meiner Seite. Ich brauchte nicht hinter mich zu blicken, um zu sehen, dass sie vermutlich mit Amren auf dem ihr zugewiesenen Stuhl saß. Und ich würde auch nicht zu ihr sehen, nicht solange ich nicht musste.

Rhys deutete mit einer Hand eine kurze Bewegung an, mit der sich nun alle aufrichteten. Die Show begann.

Der Ruf des SchattensängersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt