Kapitel 20

752 38 13
                                    

MELANY

Als Azriel und ich gestern nach unserem Gespräch wieder auf der Feier waren, konnten wir weder Cassian noch Nesta finden. Ich wusste, dass ich mich nicht einfach so von der Feier schleichen und zurück zu meinem eigenen Zuhause gehen konnte. Ich hatte keinerlei Interesse daran, die Vereinbarung mit Nesta weiterhin aufrecht zu halten. Schon gar nicht, seit Rhysand meine Magie ohnehin gesehen hatte, womit Nestas Druckmittel jegliche Macht verloren hatte. Doch ich war ehrlich mir gegenüber: Auch wenn Azriels Gesichtsausdruck beim Anblick meiner Magie, die seine Schatten verjagt hatte, eine gewisse Enttäuschung in mir ausgelöst hatte, wollte ich ihm nah sein. Ich wollte nicht von seiner Seite weichen. Deshalb weigerte ich mich am Ende der Feier gegen Sonnenaufgang auch nicht, mit ihm, Elain und Mor zurück zum Stadthaus zu gehen. Diese Nacht noch, redete ich mir ein. Diese eine Nacht würde ich noch hierbleiben und früh am Morgen Nesta sagen, dass ich nach Hause gehen würde.

Ich hatte kaum Schlaf bekommen. Es lag vor Allem an der Gewissheit, dass Azriel den Flur hinunter in einem anderen Schlafzimmer war. Dass wir uns in demselben Haus befanden. Lange hatte ich an die Decke gestarrt, war schließlich aufgestanden und an das Fenster getreten. Die Sonne war schon halb über dem Horizont zu sehen gewesen, als ich mich endlich dazu bewegen konnte, zurück unter die Bettdecke zu schlüpfen und die Augen zu schließen. Nach einigen Stunden war ich wieder wach. Ich hatte wieder nicht geträumt. Die Träume blieben schon seit drei Tagen aus, seit den Halluzinationen im Archiv. Als ich am Morgen aufwachte, überkam mich die plötzliche Sorge, dass ich nie wieder diese Träume haben würde. Dass ich nie wieder von Schatten umgeben sein würde, die Azriels so sehr ähnelten und mich im Schlaf trösteten. Die Sorge machte schließlich der Bedrücktheit Platz. Auch wenn ich erst seit einigen Minuten wach war, spürte ich bereits die schlechte Laune, die ich vermutlich den ganzen Tag über haben würde.

Ich hörte einige Geräusche aus dem Erdgeschoss, was bedeutete, dass der Haushalt schon wach sein sollte. Ich machte mich deshalb schnell fertig, zog mir ein schlichtes hellblaues Kleid an und flocht mir die Haare seitlich zu einem Zopf. Vielleicht könnte ich direkt vor dem Frühstück noch mit Nesta sprechen und mich aus unserer Abmachung herausreden. Dieses überdeutliche Ziehen in meiner Brust erinnerte mich nur noch mehr an den Illyrianer mit den goldenen Augen, der vermutlich ebenso unten bei seiner Familie saß. Mit dem ich den Rest der Woche zusammenleben müsste, solange Nesta darauf bestand, dass ich hierblieb. So verlockend der Gedanke auch war, so war die Erinnerung an Azriels Reaktion von letzter Nacht umso präsenter. Ich gab es nicht gerne zu, aber es hatte mich verletzt. Nicht, weil ich glaubte, dass er mir absichtlich wehtun würde, oder gar wehtun wollte. Sondern, weil ich dachte, diesmal wäre es anders. Diesmal gäbe es jemanden, der nicht vor meiner Magie zurückwich. Doch ich hatte mich geirrt. Wieder einmal. Nur war es dieses Mal schmerzlicher, als ich es erwartet hatte.

Mit mäßigen Schritten ging ich den Flur entlang und versuchte beim Hinuntergehen der Treppen zu entziffern, wessen Stimmen aus der Küche zu hören waren. Es war ein komplettes Wirrwarr aus Gelächter, Gesprächen und Küchenbesteck. Schon wieder dieses Ziehen in meiner Brust. Doch plötzlich veränderte sich die Geräuschkulisse - alle wurden etwas leiser und das Gelächter verklang. Hatten sie etwa gehört, dass ich mich näherte?

Ich ging um die Ecke und blickte dann durch den Türbogen zur Küche. Langsam wandten sich die Blicke zu mir, wobei ich bewusst den von einem goldäugigen Illyrianer mied. Stattdessen sah ich direkt in die Gesichter meiner High Lady, meines High Lords und Morrigan. Keine Spur von Cassian und Nesta. Es war, wie als wären sie seit gestern Nacht wie vom Erdboden verschluckt.

»Guten Morgen«, sagte ich leise und lächelte schüchtern. Ich hatte in den siebzig Jahren meines Aufenthaltes in Velaris nicht einmal den High Lord persönlich gesehen und jetzt sah ich ihn seit einigen Tagen beinahe täglich. Bei Gott, ich stand in seinem Haus. Ich wusste nicht, wie man sich in solch einer Situation verhalten sollte.

Der Ruf des SchattensängersWhere stories live. Discover now