Kapitel 16

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MELANY

Schweigend gingen Nesta und ich die Straße entlang. Wir kamen an der Sidra vorbei und passierten das Regenbogenviertel. All dies, während wir kein Wort miteinander sprachen. All diese Ereignisse vom Vormittag waren einfach zu viel. Ich verstand noch immer nicht, was genau passiert war. Zudem war da noch diese Sache mit Nova und dem kurzfristigen Standortwechsel zum Stadthaus. Ich hatte mich von Nesta zwar überreden lassen, dorthin zu gehen, doch falls sie darauf bestehen sollte, dass ich auch über die Nacht blieb, würde ich mich weigern. Diesmal würde ich mich durchsetzen. Das einzige Problem war Nova: Nesta würde ihre Drohung wahrmachen und kurzerhand eine Mitteilung über meinen Zustand an Nova schicken. Was Nova dann tun würde, war mir nur allzu sehr bewusst. Und genau das nervte mich.

Meiner gedrückten Laune wurden nun auch noch Schuldgefühle beigefügt. Ich war Nova schon seit zwei Wochen eine Last. Sie selber würde das niemals behaupten, aber ich sah die Sorge in ihren Augen. Sie machte sich immerzu Sorgen. Seit der Sache mit Virion nur noch mehr. Ich hasste ihn dafür - und für viele andere Dinge, über die ich im Moment jedoch nicht nachdenken wollte. Würde bloß das Zittern aufhören, oder die unerträglichen Kopfschmerzen. Das wäre schon ein Anfang.

Seufzend hob ich meinen Blick von den Pflastersteinen der Straße und sah zu Nesta. Sie hatte ihren eisernen Blick geradeaus gerichtet und bemerkte meinen Blick nicht einmal. Falls sie ihn bemerkte, interessierte sie sich zumindest nicht dafür. Deswegen schaute ich genauso wie sie auch die Straße hinunter zum Stadthaus, das bereits in Sichtweite war.

Nesta öffnete mir die Tür zum Haus, als wir nun endlich angekommen waren, und ließ mich eintreten. Ich wurde auf der Stelle von Düften wie frischem Brot und Kräutern umgeben. Es war ein schönes Gefühl, wie als würden jegliche Probleme vor der Haustür warten und keinen Zutritt ins Haus bekommen. Ich machte einige Schritte in das Foyer des Stadthauses und blieb einige Meter vor der breiten Eichentreppe stehen. Mein Blick glitt reflexartig zum Wohnzimmer zu meiner Rechten - dort, wo vor einigen Tagen Azriel gesessen hatte. Doch er war nicht da, was mich nicht wunderte. Er, Cassian und der High Lord hatten sicherlich besseres zu tun, als den ganzen Tag herumzusitzen und sich zu unterhalten. Normalerweise hatte auch ich besseres zu tun als mitten am Tag meine Freundinnen zu besuchen. Wobei man nicht von Besuch reden konnte - Ich wurde regelrecht hierher befohlen. Da versuche einer mal der Schwester der High Lady zu widersprechen.

»Hast du Hunger?«, fragte Nesta. Ich drehte mich zu ihr und schüttelte bloß den Kopf. Sie bedeutete mir, ihr zu folgen und ging durch einen Türbogen gegenüber vom Wohnzimmers. Ich ahnte, wohin sie mich führte und musste den Drang unterdrücken, die Augen zu verdrehen.

Ich folgte ihr - In die Küche. Sie wies mich an, auf eines der Stühle Platz zunehmen, was ich ebenfalls befolgte. In schnellen Handbewegungen befüllte sie einen Teller mit den unterschiedlichsten Gebäckarten. Einige, die es auch damals beim Tee mit den Archeron Schwestern gab. Ich kam nicht umhin beim Gedanken daran zu lächeln. Wie wir zu viert im Garten saßen, wie ich dort das erste Mal Azriel begegnet war. Wie sich seine Schatten am Ende des Tages um meine Beine geschlungen hatten; wie sie mich getröstet hatten. Wie er mich getröstet hatte, ohne es zu wissen.

»Melany.« Ich zuckte erschrocken zusammen und sah Nesta an. Sie blickte mich fragend an, doch ich lächelte nur verlegen. Eine Wärme breitete sich auf meinen Wangen aus und ich hätte schwören können, dass mein Gesicht um einige Töne roter wurde. Doch falls es zu sehen war, sagte Nesta kein Wort. Stattdessen legte sie den Teller mit Gebäck auf den Tisch, reichte mir einen leeren Teller und eine Tasse mit Tee. Ich lächelte erneut zum Dank, nahm mir aber nichts vom Essen.

»Denkst du, die Wachen werden irgendwas zu Rhysand sagen?«, fragte ich Nesta. Sie verstand worauf ich hinaus wollte: Der Schutzzauber, der mich wie eine Mauer umgeben hatte, hatte jedes der Wachen von mir ferngehalten. Eine normale High Fae war zu vielem fähig, aber ich wusste nicht, ob das eines der Dinge war, die normal waren. Zu meiner Überraschung schüttelte Nesta den Kopf.

Der Ruf des SchattensängersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt