»Das wird nicht nötig sein. Es sind nur einige Minuten zu Fuß«, sagte ich schnell und schluckte schwer.

»Assistant Agent Nova hat mich ausdrücklich gebeten, Euch-«

»Wenn es nur eine Bitte war und kein Befehl, ist es wirklich nicht nötig«, schnitt ich ihm höflich das Wort ab. Meine Stimme war nicht so ernst wie seine, und ich befürchtete dass mir noch immer die Hände vor Angst zitterten, aber meine Augen waren starr und unnachgiebig in seine gerichtet. Allein der Gedanke, er könnte mich berühren, ließ mir den Atem stocken und die Handflächen feucht werden. Er zögerte. »Und Ihr sagtet bereits, dass der Hof im Haus der Winde eingetroffen ist. Die Wachen sind bestimmt überall in der Stadt aufgestellt. Ich werde es schon allein schaffen.«

Er schien meine Worte mit diesem durchdringenden Blick eines Kriegers abzuwägen, ehe er kurz nickte. »Ich werde Eurer Cousine Bericht erstatten, dass Ihr nach Hause gegangen seid.«

»Danke«, sagte ich bloß knapp und wartete, bis er sich mit ausgebreiteten Schwingen in die Lüfte erhoben hatte. Dann setzte ich mich selber in Bewegung und rieb mir im Gehen die feuchten Handflächen an meinem Samtmantel ab. Langsam beruhigte sich mein Herzschlag wieder, doch der plötzliche Adrenalinschub hatte mich schwitzen lassen. Als eine frische Frühlingsbrise meine Haut streifte und meine Locken aufwirbelte, konnte selbst die strahlendheiße Sonne nicht verhindern, dass meinen Körper ein kalter Schauer durchfuhr.

An allen anderen Tagen hätte ich Novas Nachrichten mit einem Lächeln abgetan und ihr versichert, dass es mir im Archiv gut ginge. Aber wenn ich meine Mutter kannte - und das tat ich - dann würde sie nur einige Minuten in Velaris brauchen, um meinen Standort festzustellen. Und ich wusste nicht, wie viele Wachen in diesem Viertel aufgestellt waren, die mich und die Dokumente im Keller schützen könnten.

Das zerrissene Kleid unter meinem dunkelblauen, hauchdünnen Mantel, scheuerte an meinen Oberschenkeln. Die Schmucksteine, die an dessen Saum angebracht waren, hatten sich gelöst und hingen an Fäden herunter. Zumindest war das raue Material der Steinchen ein Hinweis darauf - ein wohlgemerkt sehr unangenehmer Hinweis. Zumindest war der samtige Stoff des Mantels angenehm auf der Haut und wiegte mich beruhigend bei jedem Schritt. Der Stoff flog zwar in breiten Stoffen um mich herum wenn mich ein Windhauch traf, aber es war sehr willkommen. Mit einer Hand versuchte ich den Knoten des Gürtels, der aus demselben Stoff wie der Mantel war, fester zu ziehen. Doch ich scheiterte kläglich. Und in dieser Situation würde ich sicherlich nicht stehenbleiben, meine Tasche ablegen und den Gürtel festziehen. Nicht, wenn ich Gefahr lief, jemandem aus dem Hof der Alpträume über den Weg zu laufen.

Der Weg vom Archiv nach Hause dauerte 15 Minuten. Die Entfernung war nicht das Problem, sondern das übliche Treiben. Heute aber waren nur eine Handvoll Fae unterwegs. Es waren mehr Wachen als üblich stationiert, viele von ihnen hatten Flügel. Die Illyrianer wurden sicherlich gerufen, um noch mehr Verstärkung heranzuziehen. Irgendwas in mir erlangte Genugtuung bei dem Gedanken, dass trotz Allem niemand der Höhlenstadt vertraute - auch wenn man ihnen nun gewährte, die Tore nach Velaris zu durchqueren.

Ich bog von der Provinzialstraße in eine kleinere Seitenstraße ein, die auf direktem Wege durch das Ratsviertel zu mir nach Hause führte. Keine Wachen waren zu sehen, genauso wenig Fae oder Kinder. Vermutlich war es auch besser so, wenn man bedachte, was für gruselige Gestalten Lord Keir und seine Anhänger waren. Dennoch stellten sich meine Nackenhaare auf, je weiter ich die Straße entlangging. Ich umfasste meine Handtasche noch fester und beschleunigte meine Schritte. Die Magie, die sich panisch in mir ausbreitete kitzelte in meinen Fingerspitzen und elektrisierte sogar die Spitzen meiner Locken. Es war ein so unangenehmes Gefühl, wie als wäre ich in dieser Einsamkeit der Straßen nicht allein. Selbst mein Puls schien diese ominöse Energie zu registrieren. Ein Zucken und Ziehen in meinem Brustkorb spornte mich regelrecht an, schneller zu laufen. Aber ich zwang mich zur Ruhe. Ich musste ruhig bleiben. Ich durfte den Wachen keinen Grund geben, unnötigerweise Alarm zu schlagen, nur weil ich ein ungutes Gefühl-

Der Ruf des SchattensängersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt