Kapitel 11

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June ging den kleinen, verwachsenen Pfad entlang, der an den Garten ihres Hauses grenzte. Zwischen dem Brombeerbusch und der Tanne, die ihre langen Äste nach dem Gebüsch austreckte, war der kleine Weg kaum zu erkennen. Sie hielt das Buch, in den sie den Brief gelegt hatte, sowie ihr Skizzenbuch fest an ihre Brust gepresst und bahnte sich ihren Weg durch das Gebüsch. Die Zweige und das Laub knackten unter ihren Schuhsohlen.

Wenig später schob sie einen Ast beiseite und erhielt freie Sicht auf einen kleinen Bach. Sie ließ sich ins Gras sinken und legte ihr Skizzenbuch neben sich. Dann griff sie an ihren Hals und öffnete das Medaillon, welches nun, ebenso wie die Kette die Jack ihr geschenkt hatte, um ihren Hals hing. Sie holte den kleinen Schlüssel heraus und schloss das Buch auf. June legte den Schlüssel wieder zurück in das Schmuckstück und schlug das Buch auf. Der Umschlag des Buches fühlte sich rau und kalt in ihren Fingern an. Sie ließ ihren Blick über die erste Seite schweifen und fuhr mit den Fingern über die vertraute Handschrift. „Geisterwelt" war die Überschrift auf dieser Seite. June überflog die Seite kurz und blätterte weiter. Auf den folgenden Seiten las sie die Überschriften „Geisterbeschwörung, Besitzergreifung, Erscheinungen, Schutz vor bösen Geistern." Überall waren Zeichnungen und Zeitungsartikel hinzugefügt worden und ihre Mutter hatte Vermutungen zu einzelnen Artikeln notiert. Bei der Überschrift „Necronmancer" blieb sie hängen. Sie wollte gerade anfangen die Zeitungsartikel und handschriftlichen Kommentare ihrer Mutter zu lesen, als etwas im Unterholz hinter ihr knackte. June zuckte zusammen.

Aiden bog auf den Parkplatz des kleinen Imbisses ein und parkte seinen Wagen vor dem Eingang, über dem ein leuchtendes Schild mit der Aufschrift „Kays" hing. Wenig später betraten die Jungs das kleine Lokal und setzten sich in ihre Stammecke im hinteren Teil des Ladens. Jack schaute sich in dem Imbiss um. Es war nicht viel los. An einem der vorderen Tische saß ein älteres Ehepaar, an einem anderen Tisch ein Geschäftsmann, der eifrig auf seinem Laptop herumtippte. Den Tisch neben dem Eingang zur Küche belegte ein Mann mit schwarzen Haaren und einem schwarzen Bart. Er schaute auf, als die Jungs eintraten. Seine linke Gesichtshälfte war mit einem großen Brandmahl verunstaltet. Jack und Aiden beachteten ihn jedoch nicht. Als sie Platz genommen hatten, winkte Aiden einen Mann im mittleren Alter zu sich. „Hey Jungs, wie geht's?", fragte er und lächelte die Freunde an. Aiden lächelte. „Ganz gut Kay, danke."

„Das Übliche?", fragte Kay und die beiden nickten. „Kommt sofort.", meinte der Inhaber des Imbisses und verschwand in der Küche.

„Willst du darüber reden?", fragte Aiden und sah Jack über den Tisch hinweg an. „Es ist alles so verwirrend Aiden. Ich habe nie bemerkt, dass Mum Geister sehen könnte, geschweige denn, dass sie etwas mit einer Sekte zu tun hat." Jack unterbrach sich, als Kay mit zwei Tellern wiederkam, auf denen sich jeweils ein Burger und Pommes befanden. Als Kay wieder in der Küche verschwunden war, fuhr er fort. „Sie wusste das sie sterben würde.", sagte Jack leise, „Wenn ich das gewusst hätte..." Aiden unterbrach ihn. „Wenn du davon gewusst hättest, wärst du in Gefahr gewesen und das wollte deine Mutter nicht."

Jack knabberte an einer Pommes. „Du hast ja Recht, aber June und ich hätten vielleicht früher von alle dem gewusst und wären vorbereitet gewesen." Aiden legte seinen halb aufgegessenen Burger wieder auf den Teller. „Auf so etwas wie Geister kann man nicht vorbereitet sein!", stellte er klar. Jack nickte abwesend. „Du hast ja Recht Aiden, aber ich wünsche mir einfach, dass sie hier wäre und uns helfen könnte.", sagte er traurig. „Sie ist immer da Jack. Sie ist eure Mum, sie passt immer auf euch auf.", antwortete Aiden ruhig und biss erneut von seinem Burger ab.

June drehte sich ruckartig um und atmete dann erleichtert auf. „Cole, du hast mich erschreckt.", sagte sie. Ihr Halbbruder hob entschuldigend die Hände. „Entschuldige"

„Was machst du hier?", fragte June verwirrt. Cole setzte sich neben sie ins Gras. „Ich wollte sehen, ob es dir gut geht.", sagte er leise. June lachte kurz auf, doch es war eher gekünstelt, als ernst gemeint. „Warum sollte es mir nicht gut gehe?", fragte sie und drehte sich zum Bach. Sie hoffte, dass man das Zittern in ihrer Stimme nicht hören konnte. Cole atmete tief ein. „Naja, du hast geweint.", sagte er leise. June schaute ihn erschrocken an. Wie viel hatte er mitbekommen? Wusste er etwas? „Hast du gelauscht?", fragte sie verärgert.

Cole schüttelte den Kopf. „Nicht direkt." June setzte sich kerzengerade hin. „Nicht direkt?" Junes Stimme bebte. „Lass es mich erklären, bitte June." June entspannte sich etwas und nickte. „Als ich wieder nach unten gekommen bin, habe ich nochmal ins Arbeitszimmer geschaut und dich weinend auf dem Boden gesehen. Dann bist du gegangen und ich bin dir hinterher." Cole schaute sie aus seinen braunen Augen an. „Ich habe mir Sorgen gemacht." June war überrascht. „Ich hätte nicht gedacht, dass du dir Sorgen um mich machst.", sagte sie und zupfte einen Grashalm aus der Erde.

„Natürlich mache ich mir Sorgen um dich.", antwortete Cole und schaute auf den Bach. Er seufzte. „Auch wenn ihr mich nicht besonders leiden könnt und ich den Anschein erwecke, dass ihr mich auch nicht interessiert, sorge ich mich um euch.", gab er zu, „Ich habe mich doof verhalten seitdem ich hier bin, aber das heißt nicht, dass ihr mir egal seid. Ihr seid immer noch meine Geschwister."

Dieses Geständnis ließ June schlucken. Das hätte sie nicht erwartet. Sie wollte gerade etwas erwidern, als sie erstarrte. Cole sah sie besorgt an. „June?"

Clairvoyance- Zwillinge Der Hellsicht| #Wattys2020Where stories live. Discover now