Kapitel 7

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Eine junge Frau stand vor dem Blumenladen an der Straßenecke, an dem die Zwillinge immer auf ihrem Nachhauseweg vorbeikamen. Ihre lila gefärbten Haare fielen ihr in Locken über die Schultern. Sie stand mit dem Rücken zu June. Als sie sich umdrehte, stockte June der Atem. Das Gesicht der Frau war mit Brandwunden überseht. Abgerissene Hautfetzen hingen von ihrem Gesicht und das rechte Auge war angeschwollen. June stieß geschockt die Luft aus. Auch die Hände der Frau waren von Blasen überseht und auf dem Handrücken perlte sich die Haut ab. Die Frau bemerkte sie und zwang sich zu einem Lächeln, bevor sie anfing sich in Luft aufzulösen. June fasste sich an die Schläfe. Jack sah sie besorgt an. „Alles in Ordnung?", fragte er und legte seiner Schwester eine Hand auf die Schulter. June sah ihn an. „Die Frau...", setzte sie an und unterdrückte einen Schluchzer." Jack nickte. „Ich habe sie auch gesehen." June schloss die Augen. „Ihr Gesicht...glaubst du sie..."

„Ich denke, sie ist verbrannt.", vermutete Jack und seufzte leise. „Es muss schrecklich gewesen sein." June schaute zu Boden. „Können wir bitte nicht über den Tod reden?", bat sie. Ihr Bruder zog sie näher zu sich. „Natürlich.", flüsterte er.

Nachdem sie zuhause angekommen waren, wollte June nur noch in ihr Zimmer. „Ich gehe nach oben.", murmelte sie. Jack schaute sie an. „Willst du nichts essen? Papa hat uns Spaghetti rausgelegt." June schüttelte den Kopf. „Ich habe keinen Hunger.", sagte sie und stieg die Stufen zum Obergeschoss hinauf. Sie wollte einfach nur allein sein. In ihrem Zimmer ließ sie sich auf ihr Bett fallen und kramte in der Schubblade ihres Nachttisches nach ihrem Zeichenblock und ihren Stiften. Sie zeichnete oft, vor allem, wenn sie ihre Gedanken aus ihrem Kopf verbannen wollte. Wenn sie malte, gab ihr das das Gefühl das Geschehende unter Kontrolle zu haben. June rief sich das Bild der Frau wieder ins Gedächtnis. Ihre verbrannte Haut und ihren von Schmerz geplagten Blick. Sie ließ den Stift über das Skizzenbuch fliegen und verbannte dieses Bild auf das Papier.

Aiden bog in die Einfahrt des großen weißen Hauses ein und ging zur Eingangstür. Er holte seinen Haustürschlüssel aus der Tasche seiner Jeansjacke und schloss die Tür auf. Er schmiss seine Schultasche in eine Ecke des Flurs und trottete in die Küche. „Mum, ich bin zuhause.", rief er und schaute sich um. Auf dem Küchentisch entdeckte er einen Zettel, auf dem er die Handschrift seiner Mutter erkannte. Er griff danach und überflog ihn.

Ich muss heute wieder länger arbeiten. Das Essen steht im Kühlschrank.

Hab dich lieb,

Mum.

Aiden zerknüllte den Zettel und warf ihn in den Mülleimer. Eigentlich hätte er sich denken können, dass seine Mutter wieder nicht zusammen mit ihm essen würde. Sie war eigentlich nie zum Mittag zuhause. Aiden ging zum Kühlschrank und öffnete ihn. Er entdeckte einen Teller mit Erbsensuppe. Er holte ihn heraus und stellte ihn in die Mikrowelle. Nachdem die Suppe aufgewärmt war, nahm sich Aiden einen Löffel aus einer der vielen Schubladen und ging in das Arbeitszimmer. Das war sein Lieblingsplatz im gesamten Haus. Was zum einem an dem riesigen Bücherregal lag, was seine Leidenschaft zum Lesen geweckt hatte. Andererseits lag es aber auch daran, dass Aidens einzige Erinnerungen an seinen Vater mit diesem Raum verbunden waren. Wenn Aiden die Augen schloss konnte er sich selbst sehen, wie er auf dem Schoß seines Vaters saß und dieser ihm Geschichten aus einem alten Buch vorlas. Aiden erinnerte sich wage, dass die Geschichte von Drachen und Rittern gehandelt hatte.

Aiden hatte das Buch nicht mehr angefasst, nachdem sein Vater verschwunden war. Aiden war damals drei Jahre alt gewesen. Er vermisste ihn. Aiden aß seine Suppe und schaute dabei mehrfach zu dem hohen, aus altem Holz gefertigten Bücheregal. Sein Blick schweifte über hunderte von Büchern. Die Meisten hatte er gelesen. Sie handelten von fabelhaften Märchen, die Aiden der Reihe nach verschlungen hatte.

Aiden stellte den nun leeren Teller auf dem alten Schreibtisch ab und ging zu dem Bücherregal hinüber. Er ließ seine Finger über die Einbände der Bücher wandern. Die Meisten waren in Leder gebunden und fühlten sich rau unter seinen Fingerkuppen an. Bei einem Buch im schwarzen, vergilbten Umschlag blieb er hängen. Es war das Buch, aus dem sein Vater ihm immer vorgelesen hatte. Er hatte Aiden erzählt, dass dieses Buch bereits Aidens Großvater gehört hatte und dieser ihm selbst schon daraus vorgelesen hatte. Aiden schluckte. Fünfzehn Jahre lang hatte dieses Buch im Regal gestanden. In diesen Jahren hatte sich sehr viel Staub auf dem Buch angesammelt. Aiden zog das Buch aus dem Regal, es war wie ein Drang. Er musste das Leder in seinen Händen spüren. Vorsichtig pustete er den Staub weg. Er lächelte, als er sich vorstellte, wie sein Vater dieses Buch in den Händen gehalten hatte. Vorsichtig legte er das Buch zur Seite und wischte den Staub aus der Lücke, wo das Buch vorher gestanden hatte. Plötzlich durchfuhr ihn ein kalter, kaum merklicher Schauer. Aiden schüttelte sich und fasste weiter in die Lücke hinein, um auch den Staub aus der letzten Ecke zu Tage zu fördern. Doch statt einer Wollmaus ertastete er einen kleinen Hubbel. Es fühlte sich beinahe an wie ein Hebel. Nun packte Aiden die Neugier und er versuchte, die Erhöhung zu bewegen. Tatsächlich ließ sich der kleine Stab zur Seite schieben. Schließlich vernahm er ein leises Klicken.

Aiden tastete die Rückwand des Bücherregals ab. Doch statt einem Geheimfach oder ähnlichem ertastete er nur die kalte Rückwand des Regals. Aiden zog seine Hand aus der Lücke zwischen den zwei anderen Büchern und sah sich um. Alles schien unverändert. Die Sessel standen noch da wo sie sollten, auch keines der anderen Bücher hatte sich auch nur einen Millimeter bewegt. Aidens Blick wanderte zu dem Schreibtisch. Auch er schien auf den ersten Blick unverändert. Aiden stellte das Buch wieder ins Regal. Er wunderte sich sowieso warum er auf die Idee gekommen war es aus dem Regal zu holen. Er drehte sich von dem Regal weg und wollte das Zimmer verlassen. Vor dem Schreibtisch stoppte er jedoch noch einmal. Etwas hielt ihn ab den Raum zu verlassen. Dann fiel ihm etwas auf. Die eine Schublade des Schreibtisches war einen Spalt breit geöffnet. Er hätte schwören können, dass sie vorher fest verschlossen gewesen war. Aiden schüttelte den Kopf. Das war doch lächerlich, oder? Er zuckte mit den Schultern und ging auf die Schublade zu. Nachschauen schadete ja nicht. Er zog sie ganz auf. In der Mitte der Schublade lag eine Taschenuhr. Sie war mit verschnörkelten Ranken verziert und glänzte silbern. Aiden drehte die Uhr in den Händen. Sie war nicht viel größer als seine Handfläche. Er versuchte sie zu öffnen, doch sie blieb verschlossen, egal was Aiden versuchte.

Seufzend steckte er sie in seine Jackentasche und schob die Schublade wieder zu. Er räumte den Teller in die Spüle und vertrieb sich die restliche Zeit damit, sich in einen der Sessel im Wohnzimmer zu setzen und nachzudenken. Er dachte über das nach was Jack und June ihm heute erzählt hatten und wie ungläubig er sie angesehen hatte. Er hatte gespürt, wie June gezitterte hatte, als er ihr die Hand auf die Schulter gelegt hatte. Er dachte an ihre wunderschönen grünen Augen und wie sie ihr Haar aus dem Gesicht strich, wenn sie sich konzentrierte. June, die fest entschlossen war das Geheimnis ihrer Familie zu lüften. June, die ihm ein Gefühl von Geborgenheit gab.

Clairvoyance- Zwillinge Der Hellsicht| #Wattys2020Where stories live. Discover now