30. Deumus

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Die Klingel schrillte und kündigte das Ende der Stunde an. Wie auf Stichwort sprangen alle Schüler auf und packten ihre Sachen ein.

„Vergesst nicht, die Unterschriften für den Ausflug mitzubringen!", rief Mrs. Anderson gegen den Lärm an.

Ich stopfte lustlos meine Bücher in meine Tasche und schaute kurz auf Joels leeren Stuhl. Es war nicht verwunderlich, dass er in den ersten Stunden fehlte, wahrscheinlich hatte er verschlafen oder er würde gar nicht mehr kommen. War mir auch Recht. Lust auf seine Visage hatte ich, nach seinem Benehmen von gestern, kaum. Ich schulterte meinen Rucksack und verließ mit gesenktem Blick das Klassenzimmer. Ich kramte mein Handy hervor und prüfte, ob ich irgendwelche neuen Nachrichten bekommen hatte.

Aryaaa@aaaaaaa bby wrm ANTWOrtest dU nicht?¿", schrieb Mike und ich löschte den Chat.

Benötige wieder Aushilfe im Laden", ließ Isaac mich wissen.

Die nächste Nachricht war von Raye: „Wir müssen reden !!!!"

Ich seufzte und wollte mein Handy wieder in meiner Tasche verstauen, als ich gegen etwas stieß und es lautstark auf den Boden, vor ein fremdes Paar Schuhe fiel. Überrascht hob ich den Kopf. Der Junge war etwas größer als ich. Seine dunkelblonden Haare sprangen in alle Richtungen und seine braun-grünen Augen waren auf mich gerichtet. Kurz sah er mich wortlos an, bis sich sein Mund zu einem höflichen Lächeln verzog.

„Tut mir Leid, ich hab dich wohl nicht gesehen", sagte er und bückte sich, um mein Handy aufzuheben.

„Kein Problem, ich war diejenige, die nicht aufgepasst hat", winkte ich ab. Er drückte mir das Handy in die Hand und ich bedankte mich.

Ich wollte gerade weiterlaufen, als er plötzlich sagte: „Oh, äh, entschuldige, aber könntest du mir vielleicht zeigen, wo das Sekretariat ist?" Er rieb sich verlegen den Nacken. „Es ist mein erster Tag und ich weiß ehrlich gesagt nicht, wie ich dort hinkomme."

Ich dachte an Erdkunde und daran, wie Mr. Bennet ausrasten würde, wenn ich zu spät komme, doch schob meine Bedenken zur Seite. Es erwies sich immer wieder als praktisch, wenn man jemanden parat hatte, der einem einen Gefallen schuldete. Also setzte ich das freundlichste Lächeln auf, das ich auf Lager hatte, und sagte: „Klar, komm mit."

„Wen hast du denn da mitgebracht, Arya?", wollte Mrs. Reed wissen und beugte sich neugierig vor, um den Jungen besser anzuschauen.

„Caleb Phillips", antwortete er und ich warf ihm einen Blick zu. Caleb also? „Mir wurde am Telefon gesagt, ich solle mich im Sekretariat melden."

Mrs. Reed nickte, griff nach der Maus und schaute konzentriert auf ihren Bildschirm. „Pe...Pe...Pe...Ah, Phillips, da haben wir's!" Der Drucker erwachte plötzlich zum Leben.

„Die Informationen stimmen aber alle, oder?", fragte die mollige Sekretärin. „Caleb Phillips, 12376 Kingsrow, Crossville NE67349, geboren am-"

Caleb hüstelte leicht, woraufhin sie abrupt verstummte. Kurz sprang ihr Blick zu mir und sie lachte unwohl auf. Ich verstand sofort und wendete mich der Glastür zu. Warum war ich überhaupt geblieben? War immerhin nicht so, dass mich das interessieren würde, wo er wohnte, doch ich musste sagen, dass Kingsrow eine ziemlich wohlhabende Gegend war. Warum ging jemand so reiches überhaupt auf eine Schule wie diese. Ich konnte mir ein Kommentar nicht verkneifen.

„Lass dein Fenster heute Nacht offen. Hoffentlich war dein Fernseher teuer."

Caleb sah halb überrascht, halb amüsiert auf.

Ich hörte Mrs. Reed noch entrüstet „Ach Kindchen..." murmeln, bevor ich das Sekretariat verließ.

***

Ich sehe dichWo Geschichten leben. Entdecke jetzt