13. Mandurugo

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Erschöpft setzte ich mich auf die Bordsteinkante und stützte meinen Kopf in den Händen. Meine Gliedmaßen schmerzten und der altbekannte Hunger hatte sich wieder gemeldet. Eine Strähne fiel mir ins Gesicht und verfing sich in meinen Wimpern. Ich pustete sie weg, doch sie blieb hartnäckig. Ungelenk griff ich nach ihr und schob sie genervt hinter mein Ohr.

Ich lungerte seit beinahe zwei Stunden in den Straßen Crossvilles, ohne jegliche Pläne, was ich als nächstes tun sollte. Ich hatte letztendlich doch nicht den Mut dazu zusammenbekommen nach Hause zu gehen und Tante Am war auch nicht da gewesen. Blake war immer noch nicht aufgetaucht und ich hatte nicht den geringsten Schimmer, ob das, was gestern geschehen war, real oder ein Traum war, den ich während meines Blackouts hatte. Und selbst wenn es so wäre, warum hatte ich dann überhaupt einen Filmriss gehabt oder wem gehörte dieses Blut, wenn ich nirgends Verletzungen hatte? Es war besorgniserregend, die Antwort auf diese Fragen nicht zu kennen. Ziemlich sogar.

Ein altes Ehepaar erschien hinter einer Hecke. Sie plauderten heiter vor sich hin, bis sie mich bemerkten. Die alte Dame klammerte sich an den Arm ihres Mannes und flüsterte hysterisch auf ihn ein, ohne mich dabei aus den Augen zu lassen. Dieser schüttelte missbilligend den Kopf und zog sie auf die andere Straßenseite. Ich lachte und fragte mich, inwiefern es in Ordnung war, dass ich es lustig fand, dass das rote Zeug an mir abschreckend auf andere wirkte. Ich verstummte jedoch schnell wieder, knetete meine Lippen und starrte auf den Asphalt. Ich entdeckte eine winzige Ameise und beobachtete, wie sie versuchte sich einen Kaugummi, den irgendjemand scheinbar noch neulich hier ausgespuckt hatte, auf den Rücken zu zerren. Insgeheim taufte ich sie sofort Andy. Er scheiterte kläglich und blieb an der weichen Kaumasse kleben. Als er realisierte, dass er gefangen war, wurde er panisch und wand sich, wie ein verrückt gewordenes Tier- was er ja auch eigentlich war. Ich sah mich nach einem Hilfsmittel um und griff schließlich nach einem der Grashalme, die zwischen den Pflasterungen heraussprießten. Mit der Spitze stach ich unterhalb von Andy ein Loch und hob ihn heraus, was mir erst nach einigen Versuchen gelang. Er klammerte sich an den Stiel und krabbelte von dort zu meinem Daumen. Es kitzelte etwas, doch es störte mich nicht. Ich legte meine Hand auf den Boden und ließ ihn hinunterklettern. Munter lief er hinaus in seine Freiheit und es machte mich irgendwo sogar stolz, dass ich der Grund dafür war. Andy wollte gerade im Gebüsch verschwinden, als sich ein Schuh auf ihn niederprallen ließ. Ich hörte beinahe schon das schmatzenden Geräusch seines Todes.

Ungläubig sah ich hoch in die Fresse des größten Arschlochs auf Erden. Er blickte zu mir herab, die Miene wie immer ausdruckslos. Unwillkürlich fragte ich mich, ob man ihn als Kind fallen gelassen und nicht wieder aufgehoben hatte. Er hielt jeweils eine Tüte in jeder Hand, auf denen das Logo des Supermarkts um die Ecke gedruckt war.

„Du hast Andy umgebracht!", rief ich aufgebracht.

„Wen?", er folgte meinem Blick auf seine Füße und hob sie leicht an. Sofort huschte ein schwarzer Punkt unter ihnen hervor, woraufhin er verständnislos den Kopf schüttelte. Erleichtert atmete ich auf.

„Schleichst du dich immer so an kleine, unschuldige Mädchen ran?", fragte ich verärgert und strich mir über das Gesicht.

„Klein ja, aber unschuldig?", er hob eine Augenbraue.

„Was willst du, Joel?"

„Eigentlich...", er musterte mich, „...gar nichts. Als ich dich gesehen hab, wollte ich sogar nichts lieber als weiterzulaufen, aber jetzt bin ich leider doch etwas neugierig geworden."

Ich spürte, wie er jeden einzelnen getrockneten Blutspritzer genauestens unter die Lupe nahm.

„Neugier ist der Katze Tod", bemerkte ich trocken.

„Zu schade, dass ich keine bin", dann setzte er sich- dreist wie er war- neben mich, legte die Tüten zur Seite und begutachtete eine Weile wortlos seine Hände. Eine seltsame Stille legte sich zwischen uns. Es war wirklich merkwürdig. Sonst kriegten wir uns immer in die Haare, sobald die Schmerzensgrenze von drei Metern überschritten war, aber jetzt saßen wir einfach nichts sagend nebeneinander.

Ich sehe dichWo Geschichten leben. Entdecke jetzt