5. Erinnyen

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Wie es sich herausstellte, hatten Joel und ich beinahe denselben Stundenplan und da ich in (fast) allen Fächern alleine saß, ergab es sich so, dass meine Tage als glückliche Einsame gezählt waren.

Spätestens in der vierten Stunde wurde mir der Ernst der Lage bewusst. Ich betete, dass das alles nur ein hässlicher Zufall sein sollte, doch mein Flehen schien nicht erhört worden zu sein. Ich versuchte ihn so gut wie möglich zu ignorieren und das Gleiche schien auch für ihn zu gelten, was das Ganze um einiges erleichterte. Es war wie ein Wettbewerb, wer wen am besten wie Luft behandeln konnte.

Mögen die Spiele beginnen, dachte ich während ich einen Stein vor mir her kickte.

Wer hätte gedacht, dass eines Tages der Moment kommen würde, an dem ich die Schule mehr hasste, als ich es so schon tat.

„Halt dich von diesem Jungen fern", sagte Blake plötzlich irgendwann auf dem Nachhauseweg, so als hätte er meine Gedanken gelesen.

Ich sah ihn verständnislos an: „Danke für den Tipp!"

„Wenn du bei ihm bist, ist die Wahrscheinlichkeit auf ein Blackout während der Schulzeit höher. In seiner Nähe bist du exsplosiver", redete er weiter und überhörte meine Bemerkung. Ich wollte ihm etwas entgegnen, doch stellte fest, wie Recht er eigentlich hatte. Heute im Unterricht, während ich mit ihm saß- Warum mussten die meisten Kurse auch so überfüllt sein?- kam ich mir vor wie ein glühender Kohlehaufen. Man hatte mir nur etwas Luft zuwedeln müssen und schon war ich ein loderndes Feuer.

„Ich weiß nicht was ich tun soll", seufzte ich.

„Du musst lernen, dich zu kontrollieren."

„Leicht gesagt."

Meine sprunghafte Art konnte ich nicht einfach so unterdrücken. Ich konnte nichts daran ändern, dass ich nun mal von Natur aus ein Mensch war, der auf Knopfdruck in die Luft ging.

Wir blieben an einer Ampel stehen und ich beschloss, dass ich keine Lust auf meinen Dad hatte. Den konnte nach einem mental-anspruchsvollen Tag in der Schule schlecht gebrauchen.

„Komm", vorsichtig zog ich Blake am Stoff seiner Jacke weg von der Straße.

„Wohin?", fragte er, doch machte keine Anstalten mich aufzuhalten.

„Zu Tante Am."

Er verzog leicht die Mundwinkel. Er mochte sie nicht, aber sie war immer noch meine Tante, die Schwester meiner Mutter.

***

Ich drückte die Klingel und eine Melodie ertönte. Wenige Sekunden später wurde die Tür schwungvoll geöffnet und ein eisblaues Augenpaar blickte mich freudig überrascht an. Ihre Hände steckten in karierten Ofenhandschuhen und sie hatte eine dazu passende Schürze an.

„Arya!", Tante Am klang glücklich mich zu sehen, „Komm rein!"

Während ich im Flur meine Jacke aufhing, verschwand sie in der Küche und rief: „Ich hab heute Morgen noch an dich gedacht, Süße. Willst du Kuchen?"

Ich ging ins lichtdurchflutete Wohnzimmer. Mehr als die Hälfte der Wand bestand aus Glas und es war modern eingerichtet. Sie stand auf so was und laberte ständig von der inneren Ruhe, die sie durch die Einrichtung erlangte, wie wichtig das doch sei für den Frieden der Seele, blabla.

„Ja", antwortete ich.

Es roch angenehm nach Gebäck im Haus. Blake ging zu einem der großen Fenster, um in den Garten hinauszusehen und ich ließ mich in das gemütliche Sofa fallen, während ich mich umsah. Meine Tante hatte einen Pflanzen-Tick, weshalb in jeder Ecke irgendeine schöne Topfpflanze hauste, die für eine belebte Atmosphäre sorgte. Auch so ein Ich-bin-glücklich-und-zufrieden-Ding. An den Wänden hingen einige ihrer Gemälde. Auf den Regalen standen Fotos von mir in meinen verschiedenen Altersstufen und ich musste lächeln. Mein Blick fiel auf das dritte Bild von rechts. Sie hatte es neu dahin gestellt, aber ich erkannte sofort, worum es sich handelte. Damals war ich 8 gewesen. Einen Ball umklammernd, voller Erde und mit Tränen in den Augen schmollte ich in die Kamera. Neben mir stand eigentlich auch Blake, aber ihn konnte man auf der Aufnahme nicht sehen. Ich erinnerte mich gut an den Tag.

Ich sehe dichWo Geschichten leben. Entdecke jetzt