22. Vanth

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Ich zog mir den Duschvorhang vom Kopf und blickte direkt in Mikes schmerzverzerrtes Gesicht.

„Voll auf die Kronjuwelen", flüsterte er erstickt.

Ich sah an uns runter. Ich lag halb auf ihm, während meine Beine über den Badewannenrand ragten. Ich hatte die Vorhänge von der Stange gerissen. Mein Ellbogen war in seiner verbotenen Zone vergraben. Sofort hob ich ihn.

„Mike", stellte Joel fest und schien nicht sonderlich überrascht.

„Ich wollte doch nur'n bissch'n schlafen", sagte dieser mit weinerlicher Stimme.

„Für so was gibt's Betten. Ganz tolle Erfindung", bemerkte ich und plötzlich fing Mike an zu weinen. Ich traute meinen Augen nicht.

Mike Nelson heulte wie ein Schoßhund.

Ich hatte ihn schon in vielen Situationen gesehen. Wie er wegen seines eigenen Blutes erbleichte; wie er sich einmal in der sechsten Klasse hinter der großen Eiche auf dem Pausenhof, nach seiner ersten Zigarette übergab; wie er mit mehr Mädchen flirtete, als ich zählen konnte; ja, ich hatte ihn damals auf der Klassenfahrt sogar aus Versehen nackt gesehen, nachdem ich in den falschen Duschraum gegangen war- aber dass er weinte, das war neu.

Ratlos sah ich zu Joel. Er blickte ausdruckslos zu ihm runter und ich glaubte sogar einen Funken Missbilligung in seinen Augen zu erkennen, aber nur für den Bruchteil einer Sekunde. Ich kletterte von Mike runter und setzte mich betreten auf den Badewannenrand.

„Ich wollte mich ja in ein Bett legen und bin hoch in Erics Zimmer, doch es war besetzt", schluchzte er und schlug mit der Faust gegen die Wand. „Diese verfluchte Schlampe! Sie hat ihn gefickt. Scheisse man, er war mein Kumpel!" Er rieb sich mit den Händen über sein Gesicht. „Mein Mädchen hat meinen besten Freund gefickt!"

Einen Moment herrschte Stille.

„Scheint so, als wärt ihr jetzt quitt." Joel lachte kalt.

„HALT DEINE FRESSE, BASTARD! HAST DU NOCH NIE GELIEBT?!", brüllte Mike.

„Doch", erwiderte er, ohne jede Regung in seiner Stimme. Ich blickte zu ihm. Sein Kiefer war angespannt und er blinzelte kurz, so als würde eine kurze Erinnerung ihn übermannen, die er schnell wieder verdrängte. Ich fragte mich, ob er an irgendeine Flamme aus alten Zeiten dachte, doch letztendlich war es mir ja sowieso egal.

„Und du?", Mikes Stimme war nicht mehr als ein Flüstern. Überrascht drehte ich mich zu ihm.

Ich?" Verdutzt zeigte ich mit dem Finger auf mich.

Er nickte und schniefte. Ich lachte kurz nervös. „Naja, schätze mal, wer nicht liebt, sollte sich nicht als Mensch bezeichnen?", sagte ich achselzuckend, während ich das leise Summen meiner Mutter in der Ferne der Erinnerung vernahm.

Die Situation war mehr als nur seltsam: Drei Erzfeinde, die sich gegenseitig bis auf den Tod nicht leiden konnten, saßen in einem kleinen Bad und redeten über ihren wundsten Punkt.

Scheinbar war Joel die Sache genauso unangenehm wie mir, denn er richtete sich plötzlich auf und seufzte. „Such dir einfach 'ne Neue. Mädchen gibt es auf der Welt, wie Kondome in Bahnhofautomaten."

Er ging zur Tür, schloss sie auf und legte gerade seine Hand auf die Klinke, als sie im selben Moment runtergedrückt wurde.

„Hier bist du also!" Isaac, der reingeplatzt war, sah mich vorwurfsvoll an und hielt inne, als er erkannte, dass ich nicht alleine war.

„Ist das nicht der Typ aus Mathe?", schniefte Mike und rieb sich die letzten Tränen aus den Augen.

„Isaac Roden", sagte Joel und musterte ihn. Überrascht blickte ich zu ihm. Ich selbst wusste nicht mal, wie Isaac mit Nachnamen hieß.
Kannten sie sich?

Ich sehe dichWo Geschichten leben. Entdecke jetzt