1. Agash

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Ich ließ meine Beine über den Abgrund baumeln und summte eine Melodie. Ich wusste nicht, wo ich sie aufgefangen hatte, aber sie gefiel mir. Es hinterliess eine angenehme Schwingung in meinem Hals, die man sanft weghüsteln konnte, wenn sie einem zu Kopf stieg.

Unten erblickte ich nur Bäume und weiter in der Ferne Crossville, die Stadt in der ich lebte. Die Lichter sahen von hier aus, aus wie kleine Sterne in der Abenddämmerung. Es war schön und brachte eine verträumte Atmosphäre hervor. Meine Gedanken schweiften nach Hause und zu Blake, der wahrscheinlich schon wartete. Ein kurzer Blick auf die Uhr verriet mir, dass ich schon lange dort sein müsste.

Ich schloss meine Augen und lehnte meine Stirn gegen die kalte Stange, an der ich mich festhielt. Das Zirpen der Grillen und die kühle Luft ergaben eine beruhigende Salbe für die Seele. So etwas fand man dort unten nicht.

Resigniert seufzte ich und richtete mich widerwillig auf. Den Dreck von mir runterklopfend nahm ich den üblichen Weg zurück.

***

Ich schob das Fenster leise hoch. Flink kletterte ich hinein und schloss es wieder behutsam hinter mir. Der Fernseher lief, irgendein Baseballspiel, und ich vernahm ein lautes Grunzen. Mein Vater war vor dem Bildschirm eingeschlafen und schnarchte, wenn man die Geräusche, die er machte, so bezeichnen konnte. Es roch nach schalem Alkohol und abgestandenem Essen. Schnell schlich ich weiter, in mein Zimmer.

Blake war überraschenderweise nicht da. Ich zog mich um und ging ins Bad, um mir die Zähne zu putzen. Als ich zurückkam saß er auf dem Schreibtischstuhl und spielte mit seinem Messer.

„Du warst lange weg", stellte er fest ohne seinen Blick von der Klinge zu nehmen. Er mochte es nicht, wenn ich dort war, trotzdem kam er nie mit.

„Kann sein", sagte ich nur und sank mit einem Seufzer in meine Decken und Kissen.

Ich hatte so viele, dass es mich nicht wundern würde, wenn ich eines Tages an ihnen ertrinken würde und mich niemand finden könnte, nicht dass es jemandem gäbe, der nach mir suchen würde. Ich grinste über diesen absurden Gedanken und fragte mich gleichzeitig, wie schlimm mein Leben eigentlich sein müsste, wenn ich selbst von meinem eigenen Tod belustigt war. Doch im Grunde war es garnicht so übel. Nur in einem ertragbaren Grad beschissen. Schliesslich hatte ich Blake und mein Vater traute sich nicht mehr in mein Zimmer, wie damals. Ich sah hoch zu ihm.

„Gute Nacht", sagte ich und lächelte.

„Gute Nacht, Arya."

Ich fand meinen Namen schon immer seltsam, doch ich hatte mich mit ihm abgefunden. Mein Vater hatte mir einmal, als er einen relativ nüchternen Moment hatte, erzählt, dass ich ihn von meiner Mutter bekommen hatte. Ich fragte, warum sie mich so genannt hatte.

„Weil sie ein dummes Miststück war", kam zur Antwort.

Er redete sonst kaum über sie, außer dass sie eine billige, durchgeknallte Schlampe war und uns im Stich gelassen hatte, als ich 5 war. Mein Vater war der Meinung, dass sie nicht mehr alle hatte, weil sie mir, kurz bevor sie abgehauen war, ein Tattoo stechen ließ. Ich hatte echt keine Ahnung, welcher Tätowierer einer Fünfjährige so etwas antat oder ob meine Mutter das vielleicht sogar selber gemacht hatte, jedenfalls hatte ich jetzt seit 12 Jahren einen Kreis im Nacken. Einen schlichten, einfachen Kreis, was ziemlich einfallsreich war. Als ich mit 15 dann in einer rebellischen Phase war, hatte ich es in eine Sonne verwandelt. Die Strahlen gingen wellenartig, von der Mitte aus, in alle Richtungen. Das war zwar nicht auf auf ganz legalen Wegen geschehen, aber wenn man die Beziehungen hatte, warum noch warten, bis man 18 wurde?

Ich konnte mich nur vage an die Frau, die sich neun Monate mit mir im Bauch abgemüht hatte, erinnern. Sie hatte eine sanfte Stimme und Augen, blau wie das Meer. Ihre blonden Locken flossen über ihre Schultern und ich wusste noch, wie gerne ich nach ihnen gegriffen hatte, um an ihnen zu ziehen. Ich hatte wenig von ihr geerbt. Meine Haare waren hellbraun statt blond und ich hatte auch keine blauen Augen, sondern grüne. Ich fragte mich oft, wo sie gerade wohl steckte oder ob sie überhaupt noch lebte, doch Gedanken dieser Art vertrieb ich schnell wieder. Es war unverzeihlich, mich mit diesem Mann allein zu lassen. Ich hasste sie dafür, zumindest redete ich mir das ein.

Ich sehe dichWo Geschichten leben. Entdecke jetzt