10. Jigarkhvar

13.6K 1.2K 174
                                    

Beim Lokal angekommen stellte ich fest, dass das Geld doch nicht so genügend wie gedacht war, weshalb ich nur einen Burger bestellen konnte. Ich setzte mich in eine Ecke und beobachtete die Kunden, wie sie kamen und gingen, während ich auf meinem Essen rumkaute. Ich sah durch die Glasfenster, die von der Decke bis zum Boden reichten, und blickte meiner eigenen Spiegelung entgegen. Draußen war es mittlerweile ganz dunkel geworden, so dass ich nur das Licht der Straßenlaternen erkennen konnte. Der Gedanke, wieder in mein tristes Zuhause zu gehen, war beinahe unerträglich. Ich warf den letzten Bissen in meinen Mund, raffte mich seufzend auf und schlurfte lustlos vor die Tür.

Die Regentropfen peitschten mir wie winzige Nadelstiche ins Gesicht und mich überlief ein Frösteln. Ich wollte einfach wieder in meinem warmen, kuscheligen Bett liegen und mich mit Blake unterhalten. Ich würde ihm alle belanglosen Sachen erzählen, die mir in den Sinn kamen, wie sehr ich die Schule und meine Mitmenschen hasste und wie anstrengend Hausaufgaben waren. Dann würde er mir einfach schweigend zuhören und ich würde ihn am Ende für seine Stille ausschimpfen und ihm vorwerfen, er höre mir nicht zu. Ich grinste über diese Vorstellung.

Verdammt, ich vermisste ihn wirklich. Mir kamen seine Wunden in den Sinn, und mein Lächeln verblasste.

Ich dachte an die vielen Schnitte an seinem Kiefer, dachte daran, wie wütend er war und wie ich ihn berührt hatte. Wer hatte ihm das angetan? Es sah nach einem Kampf aus, aber nach einem unerwidertem, denn ich war mir sicher, wenn Blake sich gewehrt hätte, hätte er nicht so ausgesehen.

Mein Unterkiefer fing an zu bibbern und ich presste meine Zähne zusammen, um es zu unterdrücken.

Es ist nicht mehr weit nach Hause. Ich muss nur noch um diese Ecke und dann an der Kreuzung nach links, rechnete ich mir meinen Weg aus. Der Wind zerrte an meiner Kleidung und meinen Haaren. Die Straßen waren leer, was mich etwas beunruhigte. Dank Blake war ich Sicherheit gewohnt und hatte schon beinahe vergessen, wie es war, mich vor der Einsamkeit zu fürchten und allem was mir währenddessen passieren könnte.

Ich kam an der Abbiegung an, als ich gegen etwas lief. Ich sah hoch. Vor mir standen drei große Gestalten, zwei mit Kapuzenpulli und einer, der in der Mitte, mit Lederjacke. Alle mindestens anderthalb Köpfe größer als ich. Es war zu dunkel, um ihre Gesichter ausmachen zu können. Alles war ganz normal, ich wollte einen Bogen um sie machen und weiterlaufen- genauso wie sie scheinbar auch-, doch als sie noch einen Schritt vor machten, fiel das fahle Laternenlicht auf ihre Haupte und ich erstarrte, die Augen auf die genähte Schnittwunde auf der Wange des Lederjackenjungen gerichtet. Er begegnete meinem Blick und auch in seinen Zügen flackerte Wiedererkennung auf. Abrupt blieb er stehen und legte den Kopf schief. Seine Freunde folgten seinem Beispiel und wirkten leicht verwirrt.

„Wen haben wir denn da?", rief Lederjacke, dessen Namen ich schon wieder vergessen hatte. Warum sollte ich mir auch merken, wie der Junge hieß, den ich vorletzte Woche in einen verführerischen Smalltalk gewickelt hatte, nur um ihm anschließend einen Fünfziger aus der Hosentasche zu ziehen.

Einen Augenblick lang sah ich ihn an, als stünde Obama höchstpersönlich vor mir, bis mein Körper wie von selbst handelte und meine Beine sich in Bewegung setzten. Leider befanden wir uns momentan aber nicht in einem dichtbetanztem Club, in dem man sich dank der vorteilhaften Größe durch die sich bewegenden Menschen schlagen konnte, um seinen Verfolger abzuhängen, sondern in einer menschenleeren Gasse. So kam es, dass ich schnell am Kragen gepackt und mit einer extremen Wucht nach hinten gezogen wurde.

„Immer mit der Ruhe, Kleine. Wohin des Weges?", wollte Lederjacke wissen.

Regel Nummer eins: Sieh den Leuten, denen du abends auf der Straße begegnest, niemals ins Gesicht.

Ich sehe dichWo Geschichten leben. Entdecke jetzt