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Alex POV

"4. Verdächtiger gefasst, unverletzt und lebend. Alle flüchtigen Verdächtigen wurde gefasst, Code 5", durchbrach die Stimme eines SWATs die über den Funk in unseren Ohren kam, die Stille.

"Toter Zivilist im Westen des Gebäudes", gab ich über Funk zurück. "Scheiße", Stephen fuhr sich durch seine Haare.

"Du hast alles richtig gemacht", erwiderte ich sofort, während ich mich wieder erhob. Wir sind angehalten zu schießen, sobald sich eine gefährliche und eventuell tödliche Situation ergibt. Als der Junge die vermeintliche Waffe gezogen hat, hätten wir bereits schießen sollen. Wir dürfen laut Gesetz kein Risiko eingehen und müssen eine mögliche Eigengefährdung ausschließen.

Es lag an uns, dass wir noch nicht geschossen hatten und warteten. Aber spätestens als der Junge den Beutel aus seiner Hose zog und auf uns richtete, mussten wir schießen. Es war nur Zufall, dass ich den Gegenstand als Beutel und nicht als Waffe identifizieren konnte.

Ich stand richtig, Stephen stand zwei Meter links von mir und die Hand des Jungen hat den Gegenstand verdeckt. Selbst ich hätte fast geschossen und ich konnte das alles von uns drei am besten erkennen. Stephen hat nichts falsch gemacht und gerechtfertigt geschossen. Ihm kann rein rechtlich nichts vorgeworfen werden.

Moralisch gesehen, ist das allerdings eine andere Sache. Niemand von uns denkt deswegen schlecht über ihn, er hat überhaupt nichts falsch gemacht, trotzdem hat er einen unschuldigen Jungen erschossen und sowas muss man erst einmal mit sich selbst ausmachen können.

"Bleibt bitte vor Ort, ich komme zu euch", sagte Mike an Stephen, Jayden und mich gerichtet. Während Jayden ebenfalls seine Waffe wegsteckte, lief Stephen ein paar Meter den entlang. Es war immer schwer, andere Menschen, vor allem Kinder oder Jugendliche zu erschießen, aber wir hatten wenn wir das taten, keine andere Wahl. Das geschah nicht mutwillig, sondern weil wir es mussten. Auch hier war es gerechtfertigt und vonnöten gewesen in der Situation, auch wenn wir jetzt im Nachhinein wussten, dass der Junge keine Waffe trug.

Ich sah mich in dem Raum um, aus dem der Junge kam und konnte ein provisorisch gebautes Bett aus Kartons entdecken. Er war ebenfalls nur ein Obdachloser, der hier schlafen wollte. Er war zur falschen Zeit am falschen Ort, was ihn leider das Leben gekostet hat.

Es dauerte keine 2 Minuten, bis Mike bei uns ankam. Er warf einen kurzen Blick auf den Jungen, bevor er fragte "was ist passiert?". Mike hatte zwar Zugriff auf unsere Bodycams, aber es waren insgesamt knapp 25 Bodycam aufnahmen, auf die er natürlich nicht alle gleichzeitig schauen konnte und dadurch das Geschehen hier wahrscheinlich nicht mitbekommen hat.

"Er ist aus dem Raum gerannt gekommen. Wir haben ihn wie immer angesprochen, aber ich glaube, er hat uns nicht verstanden. Sein Englisch war sehr gebrochen. Es war zu sehen, dass er etwas in seinem Hosenbund stecken hatte. Er griff danach und hob seine Hand, woraufhin Stephen geschossen hat. Erst im Nachhinein haben wir bemerkt, dass es keine Waffe war. Stephen hat den Vorschriften entsprechend gehandelt und gerechtfertigt geschossen. Es liegt kein Fehlverhalten vor", erklärte Jayden die Situation.

"Es tut mir leid, Mike. Ich dachte, es ist eine Waffe" entschuldige sich nun Stephen, während er Mike seine Pistole hinhielt. Bei solchen Vorfällen musste der betroffene Agent seine Waffe immer an den Vorgesetzten übergeben. Es gab automatisch eine Untersuchung, auch wenn völlig gerechtfertigt geschossen wurde. Das sind ganz normale interne Abläufe bei solchen Zwischenfällen.

"Das ist sehr unglücklich gelaufen. Niemand unterstellt dir Mutwilligkeit, trotzdem muss ich dich freistellen, bis die Untersuchung abgeschlossen ist. Das ist reine Bürokratie, wie du weißt und hat nichts zu bedeuten. Sobald alles geklärt ist und du dienstbereit bist, bist du natürlich wieder zurück im Team", erwiderte Mike, während er Stephens Waffe einsteckte.

"Ich weiß. Ich warte draußen auf den Untersuchungsausschuss", antwortete Stephen, woraufhin er sichtlich mitgenommen den Gang entlang lief.

"Bist du verletzt?", fragte Mike nun an mich gerichtet. "Nur am Oberarm, ist nicht schlimm", winkte ich ab. "Draußen stehen die Sanitäter, lass das bitte erst versorgen und geh ins Krankenhaus", erwiderte mein Bruder, bevor er fragte: "habt ihr gesehen, dass es keine Waffe war?".

"Nein, ich wollte auch gerade schießen", antwortete Jayden, bevor ich sagte, "ich habe es auch erst im aller letzten Moment gesehen, mein Finger war auch schon am Abzug. Und ich stand am besten, Stephen hatte keine Chance zu erkennen, dass es keine Waffe war, die Hand des Jungen war direkt in seinem Sichtfeld".

Mike musste das alles fragen. Er war unser Chef und leitete diesen Einsatz. Sowas passiert, aber wir mussten alles vollständig dokumentieren, sodass alles und alle Entscheidungen die getroffen wurden, nachvollziehbar sind für Dritte. Das war ein Vorteil der Bodycams. Auch Stephen trug eine, worauf zu erkennen sein wird, dass er nichts falsch gemacht hat. Er wird keine rechtlichen Folgen davon tragen.

"Jayden, bleib du bitte hier bis der Untersuchungsausschuss kommt und du lässt deinen Arm versorgen", sagte Mike zu uns. Während Jayden hier bei dem Jungen blieb, lief ich zusammen mit Mike aus dem Gebäude.

"Wurden noch weitere Verdächtige gefunden?", hakte ich nach. Es war offensichtlich das alle, die wir verhaftet oder erschossen hatten, nicht die Köpfe und Drahtzieher hinter all dem waren. Sie waren viel zu unorganisiert dafür. Wahrscheinlich hatten die Anführer der beiden Gangs geahnt, dass wir dort sein könnten und sich nicht selbst aktiv beteiligt. Sie haben Leute zu dem Deal geschickt, die sie am ehesten entbehren konnten, sollten sie geschnappt oder erschossen werden und sich selbst aus der Schusslinie gehalten.

"Das erste Team hat beim Abführen der Verdächtigen weitere Mitglieder der kleineren Gang, der Streets entdeckt und ebenfalls festgenommen. Sie haben etwas geahnt und sich fern gehalten, allerdings waren sie nicht weit genug weg. Zumindest von dieser Gang scheinen wir die Anführer erwischt zu haben. Bei der anderen müssen wir mal abwarten, ob einer der Verdächtigen einknickt und mit uns kooperiert", antwortete Mike.

Auch wenn wir einen toten Zivilisten und 3 tote Verdächtige hatten, war der Zugriff in dieser Hinsicht ein Erfolg. Wir hatten mehrere Gangmitglieder bei einem Waffendeal verhaftet zusammen mit den Anführer einer der beiden Gangs. Das veränderte nicht die Welt, aber es war ein Anfang.

"Geht es dir gut? Du warst bei allen 4 Todesfällen dabei, hast davon einen selbst erschossen und wurdest angeschossen", ich wusste, dass Mike meine Reaktion beobachtete, aber es gab nichts, worüber er sich Gedanken machen musste. "Ja, das gehört dazu", erwiderte ich.

Ich habe früh beim FBI gelernt mit solchen Situationen umzugehen. Es wäre falsch zu sagen, dass mir das alles egal ist, aber ich konnte das alles sehr gut abgrenzen. Es hatte keine persönlichen Gründe, warum ich auf andere und andere auf mich schießen. Das gehörte zu meinem Beruf dazu und ich war mir darüber bewusst, dass immer etwas passieren kann.

Ich habe sowohl beim FBI als auch in Afghanistan anderen Menschen das Leben nehmen müssen und wurde auch bereits angeschossen. Das erste Mal war immer anders, aber danach wurde es jedes Mal ein Stück weit normaler. Ich denke nicht, dass man sich jemals komplett daran gewöhnt, aber man akzeptiert es und lernt gut damit umzugehen.

"Ich möchte trotzdem, dass du zur Einzeleinsatznachbesprechung gehst", erwiderte Mike ernst. "Mir geht es gut, wirklich", versuchte ich meinem Bruder zu versichern, aber er blieb standhaft, "das war keine Bitte. Lass deinen Arm versorgen, den Rest besprechen wir danach".

"Mache ich", antwortete ich, während Mikes Handy zu klingeln begann. Die Einzeleinsatznachbesprechung wurde nach jedem Einsatz angeboten. Dabei wurde der Einsatz mit einem Agenten, der eine spezielle psychologische Ausbildung hatte, durchgesprochen.

Eigentlich war das immer freiwillig, aber der Teamleiter konnte nach Einsätzen, die ausgeprägter, tödlich oder andere besondere Eigenschaften hatten, die Agents auch dazu verpflichten.

Keiner von uns war ein großer Fan von solchen Besprechungen, aber wir wurden regelmäßig von Mike dort hingeschickt, womit er ja auch eigentlich recht hatte. Aber jetzt durfte ich erst einmal ins Krankenhaus, die Kugel aus meinem Arm entfernen lassen...

Big Brothers 7Where stories live. Discover now