Soulless - Auf ewig verbunden

By freezing_storm

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„Ihre Zeit ist gekommen", ertönte Athanasios' dunkle Stimme durch den dichten Nebel. ,,Ich werde sie nicht s... More

Aesthetics
Prolog
Kapitel 1: Sol
Kapitel 2: Atlas
Kapitel 3: Sol
Kapitel 4: Sol
Kapitel 5: Sol
Kapitel 6: Atlas
Kapitel 7: Sol
Kapitel 8: Sol
Kapitel 9: Atlas
Kapitel 10: Sol
Kapitel 11: Sol
Kapitel 12: Sol
Kapitel 13: Atlas
Kapitel 14: Sol
Kapitel 15: Sol
Kapitel 16: Sol
Kapitel 17: Sol
Kapitel 18: Atlas
Kapitel 19: Sol
Kapitel 20: Atlas
Kapitel 22: Atlas
Kapitel 23: Atlas
Kapitel 24: Atlas
Kapitel 25: Sol
Kapitel 26: Atlas
Kapitel 27: Sol
Kapitel 28: Sol
Kapitel 29: Sol
Kapitel 30: Sol
Kapitel 31: Atlas
Kapitel 32: Atlas
Kapitel 33: Sol
Kapitel 34: Sol
Kapitel 35: Sol
Kapitel 36: Sol
Kapitel 37: Sol
Kapitel 38: Sol
Kapitel 39: Sol
Kapitel 40: Atlas
Kapitel 41: Sol
Kapitel 42: Sol
Kapitel 43: Sol
Kapitel 44: Atlas
Kapitel 45: Atlas
Kapitel 46: Sol
Kapitel 47: Atlas
Kapitel 48: Sol
Kapitel 49: Sol
Kapitel 50: Sol
Epilog
Nachwort

Kapitel 21: Sol

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By freezing_storm

,,Warum läuft sie seit Tagen mit diesem dämlichen Dauergrinsen durch die Gegend, als würde die Welt Regenbogen furzen und sie wäre die Hauptdarstellerin in einem dieser lächerlichen Bollywood-Filme?'', fragte Hailee mit gerunzelter Stirn an Eliah gewandt.

Dieser zuckte mit einem Grinsen im Gesicht nur mit den Schultern.

,,Du kommst schon noch drauf'', antwortete er vielsagend.

Ich warf ihm einen warnenden Blick über die Schulter zu, um ihm zu signalisieren, dass er die Klappe halten sollte, wenn ihm sein Leben lieb war. Für dieses Gespräch mit meiner Schwester hatte ich im Moment absolut keinen Nerv. Vielmehr stellte ich zum ersten Mal in meinem gottverdammten Leben panisch fest, dass ich nichts Brauchbares im Schrank hatte. Ich konnte doch nicht mit meinen Kartoffelsack-Pullovern zu einem Date mit Atlas gehen.

Amy verdrehte in meinem Kopf die Augen.

Er kennt dich doch nur in deinen Kartoffelsäcken, also mach mal halb lang. Zu meinem Leidwesen konntest du ihn nicht mal damit vergraulen, murrte sie genervt.

,,Ich weiß nicht, irgendetwas ist seit Freitagabend seltsam an ihr. Findest du nicht, Eliah? Ich kann es nicht genau beschreiben, aber sie scheint zu leuchten wie ein Glühwürmchen'', sagte Hailee, während sie ihren Kopf auf ihren Arm abstützte und dolchartige Blicke in meine Richtung abfeuerte. Ertappt zuckte ich leicht zusammen und hielt mitten in der Bewegung inne, als ich gerade eine schwarzgepunktete Satinbluse aus dem Schrank nehmen wollte.

Dieses Gespräch verläuft in eine ganz falsche Richtung, fluchte ich in Gedanken, während ich mich langsam zu meiner finster dreinschauenden Schwester umdrehte. Ihr durchdringender Blick jagte mir einen kalten Schauer über den Rücken, während ich förmlich spürte, wie mein Gesicht unmöglich heiß wurde. Mein Körper war ein verdammter Verräter.

Amy lachte nur, während sie sich genüsslich in ihrem Stuhl zurücklehnte und die Show zu genießen schien. War ja klar, dass die Dramaqueen höchstpersönlich in der ersten Reihe sitzen musste, wenn etwas für mich schieflief.

Schnell warf ich einen flehenden Blick zu Eliah, der Hailee gegenüber am Esstisch saß und nur dümmlich vor sich hin grinste. Ein klares Zeichen, dass er mir nicht helfen würde, dieser Idiot. Ich ließ ihn telepathisch wissen, dass ich ihm das heimzahlen würde, wenn sich mir eine Gelegenheit bieten würde, während ich mich innerlich dafür wappnete, dem Stier im Ringkampf gegenüberzustehen. Nur dass ich mal wieder der Torero war, der mit seinem feuerroten Gesicht dem Stier maßlos ausgeliefert war.

Ich schluckte hart, ehe ich ein versöhnliches Lächeln auflegte.

,,Ach, was redest du denn da, Lee? Das bildest du dir nur ein'', hüstelte ich gekünstelt.

Du bist wirklich die grottigste Lügnerin, der ich je begegnet bin, ertönte Amys schallendes Gelächter in meinem Kopf, der augenblicklich anfing, unangenehm zu pochen.

Woher sollst du das wissen, du dämliches Biest? Du hast doch keine Ahnung, schrie ich Amy an, nur um festzustellen, dass ich nur versuchte, mich innerlich von dem bohrenden Blick meiner Schwester abzulenken.

Wenn der Teufel eine Tochter hatte, würde ich alle zehn Pferde darauf verwetten, dass Hailee etwas von seinem Blut in sich hatte.

Von welchen zehn Pferden redest du?, mischte sich Amy in meine Gedanken ein.

Ich stöhnte innerlich. Amy war heute wieder in Plauderlaune, klasse.

,,Lee? So nennst du mich nur, wenn du etwas verbrochen hast. Also raus mit der Sprache.''

Erdboden, verdammt. Öffne dich doch nur einmal für mich und lass mich untertauchen, flehte ich, doch der billige Linoleumboden blieb zu meinem Leidwesen genauso, wie er war.

,,Und ob sie etwas verbrochen hat'', nuschelte Eliah freudig.

Ich warf ihm einen weiteren warnenden Blick zu, der jedoch genau so wirkungsvoll war, wie wenn ein Hundewelpe versuchte, einen anderen Hund, der dreimal so groß war wie er selbst, anzubellen. Eliah hob nur erwartend die Augenbraue.

,,Was? Sie erfährt es sowieso irgendwann'', sagte er achselzuckend.

,,Eliah!'', rief ich und stürmte auf ihn zu, um ihm seinen vorlauten Mund zuzuhalten.

Als ich ihn erreichte, legte ich schnell meine Hand auf seine Lippen, um ihn daran zu stoppen, irgendetwas über Atlas auszuplaudern. Es war alles so viel komplizierter, als er dachte. Noch immer war es mir ein Rätsel, weshalb er ihn sehen konnte. Ich hatte mich bewusst dazu entschieden, Atlas nichts von Eliah zu erzählen, aus Angst, es könnte ihm etwas passieren.

,,Ich hätte wissen müssen, dass es eine miese Idee war, dich und Hailee zusammen zu bringen'', fluchte ich, während Eliah mit einer einzigen Bewegung meine Hand von seinem Mund löste.

Hailee sagte nichts zu unserem kleinen Schlagabtausch. Dass sie sich nicht einmischte, war kein gutes Zeichen. Absolut nicht. Es war eher wie die Ruhe vor dem Sturm. Gleich würde sie alles ins Chaos stürzen. Prüfend warf ich einen Blick in ihre Richtung und erstarrte zur Salzsäule. Satans Tochter hatte abwartend ihre linke Augenbraue gehoben, während sie mit gekreuzten Armen vor der Brust mich mit ihren mintgrünen Augen gefangen hielt.

,,Also? Ich warte...'', sagte sie mit einer Stimme, die ein Inferno nahezu versprach.

,,Also, ich...'', stotterte ich, weil ich genau wusste, dass Hailee die Verbindung zu Atlas nicht gutheißen würde. Obwohl sie meine kleine Schwester war, beschützte sie mich wie eine Bärenmutter ihre Jungen. Schon immer war sie es gewesen, die mich vor dem Unheil bewahrt hatte, in das ich kopflos hineingerannt war. Ich war in dieser Beziehung ein ziemlicher Loser. In der Vergangenheit hatte ich auf ganzer Linie versagt, Hailee vor der Dunkelheit der Welt zu beschützen. Obwohl das eigentlich meine Aufgabe gewesen wäre, doch ich war nur am Ende immer da gewesen, um ihre Tränen zu trocknen und ihr wieder ein Lächeln aufs Gesicht zu zaubern.

,,Das ist ja nicht zum Aushalten. Sie trifft jemanden, okay?'', rief Eliah und warf theatralisch die Arme in die Luft. Sofort schoss mein entsetzter Blick in seine Richtung, ehe ich tausende imaginäre Giftpfeile auf ihn abschoss.

,,Du machst was?'', fragte Hailee mit bebender Stimme, da sie wahrscheinlich alles daran setzte, ruhig zu bleiben.

Mein Gesicht leuchtete nun wahrscheinlich wie ein Hydrant.

,,Ich habe jemanden kennengelernt?'', stammelte ich und wich ihrem fassungslosen Blick aus.

,,Wer ist dieser Typ? Was will er von dir? Ich schwöre dir, wenn er dich verletzt, wird er sich wünschen, dass ich nur Kleinholz aus ihm machen werde'', rief sie aufgebracht.

Mir blieb die Spucke weg. Ich öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, doch schloss ihn wieder.

,,Er scheint nett zu sein'', warf Eliah ein, während er sich entspannt zurücklehnte. Er schien von der Gewalt der Hölle nicht berührt zu sein.

,,Du hast ihn schon kennengelernt?'', fragte Hailee ihn vorwurfsvoll.

Eliah zuckte wieder nur mit den Schultern.

,,Mehr oder weniger. Ich habe gesehen, wie er sie angeschaut hat. Ich denke, du musst dir keine Sorgen machen, Hailee.''

Ein wenig schienen Eliahs Worte, Hailee zu beruhigen. Sie hatte die Arme, die sie angespannt vor der Brust gekreuzt hatte nun gelöst. Stattdessen spielte sie nervös mit ihren Händen. Eine Angewohnheit von ihr, wenn sie fieberhaft nachdachte.

Innerlich klopfte ich mir auf die Schultern. Erstaunlicherweise war er in dieser Situation doch zu etwas zu gebrauchen.

,,Also behandelt er dich gut?'', fragte sie mich nun mit ruhiger Stimme, die aber unmissverständlich zu verstehen gab, dass sie sofort in die Schlacht ziehen würde, wenn sie auch nur ein wenig Unsicherheit bei mir bemerkte.

Ich nickte, ehe ich auf sie zutrat und mich vor ihr hinhockte. Beruhigend legte ich eine Hand auf ihren Oberschenkel.

,,Das macht er. Mehr als ich es verdient hätte'', gab ich zu.

,,Niemand hat dich verdient, Sol. Kein Mann von dieser Welt wäre es wert, dich an seiner Seite haben zu dürfen'', sagte Hailee mit fester Stimme, die keinen Widerspruch zuließ.

Für Außenstehende musste Hailees Verhalten vielleicht überbehütet wirken oder vielleicht auch ein wenig übertrieben. Aber ich wusste, dass meine Schwester nur das Beste für mich wollte. Eben weil sie das Gefühl kannte, von jemandem fallen gelassen zu werden, von dem sie dachte, er würde das gleiche empfinden wie sie. Kein Mann, den Hailee jemals getroffen hatte, war ihr gegenüber aufrichtig gewesen und hatte ihr vermittelt, dass sie es wert war, zu bleiben.

Mein Herz krampfte sich bei diesen Gedanken schmerzhaft zusammen.

Und da ich der gefühlsgeladene Teil unseres Geschwisterbandes war, konnte ich nicht anders, als Hailee in den Arm zu nehmen. Da ich noch immer hockte, ruhte mein Kopf auf ihrer Brust, so wie es immer war. Sie war eine viel bessere große Schwester, als ich es jemals sein könnte.

Das schlechte Gewissen, das ich ihr gegenüber mein Leben lang gespürt hatte, als wäre ich mitverantwortlich für ihren Schmerz, den sie immer wieder erdulden musste, verstärkte sich, je länger ich ihren Herzschlag wahrnahm.

Sie würde mir nie verzeihen können, dass auch ich sie bald verlassen würde.

,,Du kannst diesem Typen ausrichten, dass ich ihm die Eier abreiße, wenn er auch nur den Gedanken hegt, dir wehzutun'', sagte sie, während sie mir über die Haare strich.

Ich löste mich von ihr und lächelte sie zustimmend an.

Natürlich verriet ich ihr nicht, dass sie nicht in der Lage sein würde, überhaupt jemals in die Nähe seiner Weichteile zu kommen, da sie immer ins Leere greifen würde.

Oder dass der Typ, der mir vor ein paar Tagen mit seinen Lippen den Verstand geraubt hatte und ich auch, wenn er mich nicht mehr wollte, nicht aufhören können würde, ihn zu lieben.

,,Apropos, wolltest du dich nicht mit ihm in einer halben Stunde treffen?'', mischte sich Eliah ein und zerstörte damit unseren innigen Geschwistermoment.

,,Ach deshalb rennst du seit Stunden wie ein aufgeschrecktes Huhn durch die Wohnung und beklagst dich, dass du nichts zum Anziehen hast?''

Hailees Mundwinkel zuckten dabei leicht. Man könnte sich fast einbilden, dass sie für einen Moment gelächelt hatte.

,,Ja'', sagte ich gedehnt und eilte zum Kleiderschrank, doch nicht bevor ich Eliah noch einmal einen bösen Blick zugeworfen hatte. Dieser Verräter.

,,Du solltest dich nicht wegen irgendeinem Typen aufbrezeln'', gackerte Hailee vor sich hin und hielt eine Rede darüber, dass der Richtige eine Frau so liebte wie sie war, egal in welchen Müllbeutel sie sich hüllte.

Während ihrer ausschweifenden Rede quetschte ich mich mühsam in eine schwarze Strumpfhose. Es war ein Kampf der Giganten, doch letztendlich gewann ich gegen die Strumpfhose, die mir nun, wie eine zweite Haut an meinen Beinen klebte. Schnell warf ich mir das einzige, ausgehtaugliche Kleid, dass ich im Schrank besaß über den Körper. Es war ein langärmliges Blusenkleid aus Plissee, dass an den Schultern und Armen ein wenig ausgestellt war und von zahlreichen kleinen Sonnenblumen bedeckt war. Der Stoff verlief fließend und schmeichelte sich um meine zarten Rundungen, ehe es an der Mitte meines Oberschenkels aufhörte. Als Hailee und ich es vor ein paar Jahren in einem Laden abseits der Innenstadt entdeckt hatte, war Hailee hin und weg gewesen. Immer wenn ich es seitdem trug, sagte sie zu mir, dass das Kleid wie für mich gemacht wäre, da ich die Sonne widerspiegeln würde.

Unsicher warf ich einen Blick in den Spiegel, der an der Innenseite meiner Schranktür befestigt war und strich den Stoff an meinen Seiten glatt. Ob ich ihm so gefallen würde?

Plötzlich tauchten Bilder vor meinem inneren Auge auf. Das Schmetterlingshaus, das in warmes Licht von den unzähligen kleinen Glühbirnen getaucht war, seine durchdringenden silberfarbenen Augen, die mich vergessen ließen, wer ich war, sein Arm auf meiner Hüfte und das Gefühl seiner Berührungen, die unzählige Blitze durch meinen Körper jagten und schließlich seine weichen Lippen auf meinen.

Es waren vier Tage vergangen, seit ich ihn das letzte Mal gesehen hatte. Vier endlose Tage, in denen ich die Sehnsucht zu ihm nur überdeutlich gespürt hatte. Es nagte an mir, so lange von ihm getrennt zu sein, doch ich beklagte mich nicht. Schließlich war es nicht seine Verpflichtung, jeden Tag an meiner Seite zu sein. Wer war ich, dass ich so einen Anspruch auf ihn stellen konnte?

Heute war es endlich so weit. Wir würden uns wiedersehen.

,,Pass auf, dass er nicht erblindet, wenn er dich in diesem Kleid sieht, meine Sonne'', rief Hailee, während sie sich und Eliah zwei große Schnapsgläser mit ihrem allerheiligsten Beruhigungsmittel einschenkte. Niemand mochte dieses Gesöff aus Kräutern, das einem ihm wahrsten Sinne des Wortes die Kehle wegbrannte, aber Hailee war in dieser Hinsicht schon immer anders gewesen.

Eliah verzog angewidert das Gesicht, als er den ersten Schluck nahm. Hailee kippte die 4cl ohne Probleme in einem Schwups herunter. Ich fragte mich jedes Mal, wie dieses Mädchen danach nicht singen konnte. Bei mir brauchte es nur wenig Alkohol und ich war geliefert.

,,Ja, ja. Macht ihr dann die Tür zu, wenn ihr geht? Ihr müsst fest am Türknopf ziehen, damit sie richtig einrastet'', sagte ich zu den beiden, während ich mir meine weißen Sneaker über die Füße streifte.

,,Klar doch. Viel Spaß, Schwesterherz. Und denk daran, ich bin nur einen Anruf entfernt. Falls etwas sein sollte, bin ich sofort bei dir.''

Ich lächelte Hailee dankend an, ehe ich mich von den beiden winkend verabschiedete und mit zittrigen Beinen auf die Tür zusteuerte.

Mein Herz klopfte schnell in meiner Brust. Ob vor Aufregung, Nervosität oder Vorfreude konnte ich nicht sagen. Wie es wohl dieses Mal sein würde, ihm zu begegnen?

Ich hätte nicht mit den starken Gefühlen gerechnet, die mich an diesem Tag überwältigt hatten. Der erste Moment, als seine Lippen meine berührten und er mich an sich gezogen hatte, als wäre ich seine Luft zum Atmen, hätte ich schwören können, dass die Zeit für einen Augenblick stillgestanden hatte. So fühlte es sich also an, ganz zu sein. Immer wieder hatten sich diese Worte in meinem Kopf wiederholt, während das starke Brennen in meinem Bauch mich förmlich dazu gedrängt hatte, ihm noch näher zu kommen.

Es war verrückt, nahezu unreal, dass ich mich auf so eine intensive Art und Weise zu einem Menschen hingezogen fühlen konnte. Fast als wäre er tatsächlich das Gegenstück meiner Seele, nach der ich mich schon immer gesehnt hatte.

Vielleicht war es auch nur eine desillusionistische romantische Wunschvorstellung von mir, das zwischen uns hätte eine besondere Bedeutung. Oder ich interpretierte mal wieder zu viel in die ganze Sache hinein. Das wäre typisch für mich.

Dennoch ließen mich auch diese Gedankengänge nicht davon abbringen, mich wieder einmal kopflos in das nächste Abenteuer zu stürzen. Gestern morgen lag eine Nachricht von Atlas auf dem Nachttisch, dass er mich heute Abend um 20:00 Uhr am RCA Pier treffen wollte. Warum er nicht persönlich vorbeigekommen war, wusste ich nicht. Ich versuchte, mir keine weiteren Gedanken darüber zu machen, auch wenn mein Kopf schon wieder alle möglichen Szenarien durchspielte. Doch ich bemühte mich, positiv zu bleiben und redete mir ein, dass er keine Zeit gehabt hatte und es nicht an mir oder dem Kuss zwischen uns lag.

Neben den Zweifeln, die mich in den letzten Tagen wie ein Parasit befallen hatten, war auch mein rätselhaftes Problemkind am Hals gewachsen. Auch an der anderen Seite hatte sich ein geschwungener Schatten gebildet, der sich im Nacken zu einem hellgrauen Fleck bündelte. Noch konnte ich es durch Make-Up abdecken, sodass es kaum sichtbar war, aber es beunruhigte mich, nicht zu wissen, was es mit dieser Markierung auf sich hatte. Insgeheim vermutete ich, dass es etwas mit Athanasios zu tun haben musste, auch wenn es in mir keine befremdlichen Gefühle auslöste, eher im Gegenteil. Doch es war genau zu dem Zeitpunkt aufgetaucht, als er mich in die Zwischenwelt geholt hatte. Anders konnte ich es mir nicht erklären.

Wahrscheinlich hätte ich Atlas um Hilfe bitten sollen, doch ich hatte Angst, er könnte überreagieren. Deshalb ließ ich es sein. Denn letztendlich war es sowieso egal. Dass ich sterben würde, war unausweichlich. Es waren nur wenige Momente, in denen ich mich wirklich gut fühlte, dass ich sagen konnte, der Schmerz wäre ertragbar. Und das war er nur, wenn Atlas in meiner Nähe war. Was das zu bedeuten hatte, wusste ich nicht. Aber ich hatte aufgehört, mich nach Dingen zu sehnen, die sowieso nicht eintreffen würden. Ich würde das Beste aus meiner noch verbleibenden Zeit machen.

Mit pochendem Herzen strich ich mir mit zittrigen Fingern das Kleid glatt, als ich aus dem Bus stieg und geradewegs den angrenzenden Park durchquerte, um an den RCA Pier zu gelangen, von dem man direkt auf die Benjamin Franklin Bridge schaue konnte. Besonders am Abend bot die Brücke einen erstaunlichen Anblick, wie sie sich über den Delaware River erstreckte. Hinter ihr offenbarte sich die Skyline von Philadelphia, die besonders in der Dunkelheit erst so richtig ihren Glanz zeigte.

Mein Herz flatterte und tausend kleine Schmetterlinge wirbelten in meinem Bauch umher, als ich den Pier erreichte. Der Anblick raubte mir für einen kurzen Moment den Atem. Die Lichter der Stadt spiegelten sich auf der Wasserfläche wider und hinterließen ein einmaliges Farbenmeer. Der Himmel war bedeckt von dunkelblauen, schweren Gewitterwolken, die tief über der Stadt hingen. Es sah beinahe so aus, als würde in jedem Moment die Welt untergehen.

Eine frische Brise wehte mir um die Ohren. Fröstelnd rieb ich mir die Arme, auf denen sich eine leichte Gänsehaut ausgebreitet hatte. Ich Esel war so aufgeregt gewesen, dass ich nicht an eine Jacke gedacht hatte und das mitten im Mai.

Ich schaute mich am Pier um, konnte aber Atlas nirgendwo erkennen. Ein Blick auf meine Uhr verriet mir, dass es kurz nach 20:00 Uhr war. Kein Grund zur Panik also. Trotzdem war ich nervös. Unter Anspannung lehnte ich mich mit dem Rücken an das Geländer und hielt den von großen Straßenlaternen hell beleuchteten Weg im Auge. Es war ein beliebter Treffpunkt für Paare. Wahrscheinlich kickte hier die Romantik besonders bei diesem einmaligen Ausblick.

Ich wusste nicht, wie lange ich dort stand und die zahlreichen Paare beobachtete, die mich Händchenhaltend passierten, doch irgendwann riss ich meinen Blick los und schaute wieder auf die Armbanduhr. Es war mittlerweile 20:35 Uhr.

Langsam wurde ich unruhig.

Um mich abzulenken, lief ich am Pier entlang, falls Atlas doch woanders auf mich wartete.

Ein ungutes Gefühl vermischt mit der Angst, es könnte etwas passiert sein, breitete sich langsam in mir aus je mehr Zeit verging.

Mittlerweile war es 21:30 Uhr und noch keine Spur von Atlas zu sehen. Mehrmals war ich den Pier abgelaufen, doch er war nicht aufgetaucht. Ich war sogar durch den angrenzenden Park gelaufen und hatte in den Bäumen nach Horus Ausschau gehalten, doch auch der Rabe war nirgendwo zu entdecken.

Die Zweifel in mir wuchsen mit jeder verstrichenen Minute.

Ob er mich vergessen hatte?

Er wird schon noch kommen, Mädchen. Vielleicht kam etwas dazwischen, beruhigte mich Amy seltsamerweise.

Doch mein Gedanken rasten.

Lag es an mir? Hatte er es sich anders überlegt? Oder war etwas passiert?

Ein lautes Donnergrollen ließ mich zusammenzucken, als dicke Tropfen auf meiner Haut landeten. Geistesabwesend beobachtete ich, wie immer mehr Wassertropfen an meiner Haut abperlten und mein Plisseekleid benetzten.

Wir sollten uns schnell unterstellen. Das wird ein heftiges Gewitter, animierte mich Amy von der Bank aufzustehen, doch ich reagierte nicht.

22:08 Uhr.

Als würde mich die Welt für irgendetwas, das ich getan hatte, bestrafen wollen, prasselte der Regen in Bindfäden auf die Erde nieder und durchnässte mich in weniger als einer Minute komplett. Unaufhörlich trommelten die Tropfen auf meinen Körper, während der Himmel sich entschied, all seine Macht und Gewaltigkeit der Erde zu präsentieren. Grelle Blitze zuckten über die Skyline, die zu den nun tiefschwarzen Wolken einen faszinierenden Kontrast bildeten. Was wohl passierte, wenn Blitz und Donner sich berührten?

Mädchen. Er wird nicht mehr kommen. Wir sollten nun gehen. Du hast lange genug gewartet, sagte meine innere Stimme sanft zu mir, aber ich konnte mich nicht bewegen.

Die Gewissheit traf mich wie ein Schlag.

Wenn etwas passiert wäre, hätte er Horus zu mir geschickt. Er hätte mir Bescheid gegeben und mich nicht warten lassen.

Es musste an mir liegen, dass er nicht erschienen war.

Tu das nicht, Sol, flüsterte Amy, doch ich konnte nicht verhindern, wie mir bei dem Gedanken Tränen in die Augen traten. Wenn ich jetzt anfing zu weinen, würde es sowieso keiner bemerken. Mein Gesicht war sowieso klatschnass vom Regen.

Trotzdem bemühte ich mich, die aufkommenden Tränen tapfer wegzublinzeln. Schnell blickte ich nach oben, um den Tränen keine Chance zu geben. Doch es war längst zu spät.

Der Schmerz, den ich die ganze Zeit wacker unterdrückt hatte, traf mich nun mit dreifacher Wucht. Mein Kopf explodierte förmlich, während mein Herz sich krampfhaft zusammenzog und nicht wusste, wie es die Erkenntnis, dass ich augenscheinlich für ihn nie das war, was er für mich gewesen war, bewältigen sollte.

Es war schon fast arrogant von mir gewesen, zu glauben, er hätte jemals dasselbe für mich empfinden können.

Und während die Welt um mich herum in donnernder Dunkelheit versank, wurde das Licht in mir immer kleiner, bis es nahezu gänzlich erlosch.

Zurück blieb eine Leere, die mir den Boden unter den Füßen wegzog.

Ich wusste nicht, wie lange ich noch regungslos auf der geschwungenen Holzbank saß und mir einredete, dass es wohl besser so wäre. Dass es das gewesen wäre, dass ihn letztendlich vor Athanasios Zorn beschützen würde. Vielleicht war genau das meine gerechte Strafe. Ich sollte spüren, wie es war, jemanden zu verlieren, der einem das Gefühl gab, man wäre vollständig.

Das war meine persönliche Strafe, die Athanasios mir auferlegt hatte. Meine Lektion, die ich aus der ganzen Sache lernen sollte. Für Atlas war all das nur eine flüchtige Begegnung gewesen. Nicht mehr und nicht weniger.

Und obwohl ich wusste, dass ich mit aufstehen musste, war ich noch immer nicht in der Lage, mich zu rühren. Der Regen prasselte noch immer unaufhaltsam auf mich nieder. Obwohl ich am ganzen Körper zitterte, spürte ich die Kälte kaum.

Wenn ich einfach hier sitzen bliebe, würde er dann zu mir kommen?

Du solltest dir nicht wünschen, dass er zu dir zurückkehrt, sagte Amy mit fester Stimme, doch ich wollte nicht auf sie hören.

Ein dumpfes Geräusch in der Ferne ließ meinen Kopf hochschnellen. Horus kam mit kräftigen Flügelschlägen vom Delaware River auf mich zugeflogen. Sofort durchströmte eine Mischung aus Erleichterung, Freude und Angst meinen Körper. Ich löste mich aus meiner Starre und eilte auf das Geländer zu, auf dem sich Horus gerade eben niederließ. Sein schwarzes Gefieder war komplett durchnässt vom Regen.

,,Horus, was ist passiert?'', schrie ich ihm entgegen.

Doch der Rabe regte sich nicht. Stattdessen schaute er mich aus seinem schwarzen Auge stumm an.

Er wird nicht auftauchen, Sol, sagte Horus mit monotoner Stimme in meinen Gedanken.

Ein schmerzhafter Stich durchzuckte meine Schläfe. Die Welt um mich herum begann langsam zu verschwimmen, während unaufhaltsam die Tränen meine Sicht verschleierten. Die Lichter verschmolzen zu einer einheitlichen Masse und auch Horus wurde immer undeutlicher. Die Stellen an meinem Hals brannten auf meiner Haut.

Ich krallte mich am Geländer fest, während ich mich bemühte, nicht dem Rauschen in meinen Ohren nachzugeben.

,,Warum?'', flüsterte ich die Worte mehr zu mir selbst als zu dem Raben, der mir in diesem Moment so fremd vorkam.

Was hatte ich getan, dass Atlas mich auf diese Weise behandelte?

Atlas wird dich nicht wieder aufsuchen. Du musst ihn vergessen. Das mit euch beiden war ein Fehler.

Seine Worte hallten immer wieder in meinem Kopf wider, doch ich konnte sie nicht verstehen. Mein Kopf dröhnte und das Rauschen meiner Ohren verstärkte sich mit jedem verstrichenen Augenblick.

Mit zitternden Händen hielt ich mir die pochenden Schläfen.

Auch als der Rabe ohne ein weiteres Wort wenig später in die Lüfte aufgestiegen war und eins wurde mit der Dunkelheit, konnte ich die Bedeutung seiner Worte nicht realisieren.

Doch ich spürte die Wucht des Schmerzes als ein Teil von mir, der Atlas gehörte, in mir in tausend Stücke zerbrach.

Die Welt drehte sich, das Rauschen des Regens und das laute Grollen des Gewitters vermischte sich mit der Stille in mir, als es langsam schwarz um mich wurde. Meine Muskeln versagten, als meine Knie unter mir wegknickten.

Ich spürte noch den harten Aufprall auf dem asphaltierten Untergrund und die Nässe, die sofort in meine Knochen zog. Doch ich blieb einfach mitten auf dem Weg liegen und gab mich dem Schmerz vollständig hin.

Nur verschwommen bekam ich mit, wie einige Augenblicke später sich jemand zu mir herunterbeugte und mich in seine Arme hievte.

,,Alles wird gut werden, Sol. Ich bringe dich von hier weg.''

Die dunkle Stimme und der Geruch der Person waren mir unbekannt. Ich versuchte, die schweren Lider zu öffnen, doch es gelang mir nicht. Nur kurz erhaschte ich einen verschwommenen Blick auf einen buntgestrickten Pullover, ehe ich nicht mehr die Kraft hatte, wach zu bleiben und alles um mich herum schwarz wurde.

Als ich irgendwann später in meinem Bett aufwachte, war es mitten in der Nacht. Panik überfiel mich, als ich mich schemenhaft daran erinnerte, dass mich ein fremder Mann nach Hause gebracht hatte. Woher er meinen Namen oder Adresse kannte, war mir schleierhaft.

Doch das war es nicht, was im nächsten Moment eine neue Welle an Panik in mir auflöste. Es war vielmehr die Erinnerung, dass Atlas kein Teil mehr von meinem jämmerlichen Leben sein wollte.

Die Tränen flossen ungehindert über mein Gesicht, während sich alles in mir zusammenkrampfte.

Ich rief immer wieder verzweifelt seinen Namen, in der Hoffnung, er würde zu mir kommen und mir sagen, dass er diese Entscheidung nicht freiwillig getroffen hatte. Vielleicht hätte ich damit leben können, dass es geschah, weil Athanasios es so wollte, doch nicht, wenn es Atlas' freier Wille war. Doch so war es. Horus hatte es selbst gesagt. Es war ein Fehler. Ich war ein verdammter Fehler.

Krampfhaft schloss in meine Finger um die Bettdecke und krümmte mich vor Schmerz.

Meine Seele zerbrach.

Und dann, ganz plötzlich war das Pochen in meiner Schläfe schlagartig verschwunden. Ich hielt inne, als augenblicklich die Temperatur im Raum sank.

Mein Kopf schnellte nach oben und suchte jeden Winkel des Zimmers ab, bis ich im fahlen Licht der hereinscheinenden Straßenlaternen seinen kalten Augen begegnete.

Sein Gesicht, das zur Hälfte im Schatten lag, war zu einer undurchdringbaren Maske verzogen. Leichte Nebelschwaden umhüllten seine Gestalt, die mir in diesem Moment fremd und bedrohlich vorkam. Er bewegte sich nicht, sondern stand einfach nur da, und starrte mich ohne jegliche Gefühlsregung an.

Und obwohl Amy mich anschrie, nicht zu ihm zu gehen, gab ich der tiefen Sehnsucht in meiner Seele nach, schwang die wackligen Beine über den Bettrand und rannte mit ausgebreitet Armen auf ihn zu.

Als ich seinen warmen Körper an meinem spürte und sein unverkennbarer Duft in meine Nase drang, fing mein Körper an zu beben und immer mehr Tränen fanden ihren Weg an die Oberfläche. Während ich meine Arme fest um seinen Bauch schlang und meinen Kopf an seine Brust drückte, blieb er reglos stehen. Ich konnte förmlich spüren, wie sich die Lücke in meinem Herzen langsam schloss. Ich bekam kaum Luft, während die Tränen ungehindert meine Augen verließen und ich mich schluchzend an seinen Rücken klammerte.

Er war hier. Das hatte etwas zu bedeuten.

Doch bevor ich ihn fragen konnte, warum er meine Umarmung nicht erwiderte, hatte er mich unsanft zurückgestoßen und war einen Schritt von mir weggetreten.

Etwas in mir zerbrach, als seine dunkle Stimme den Raum durchschnitt.

,,Hör auf, nach mir zu rufen! Horus hat dir alles gesagt, was du wissen musst.''

Die Heftigkeit und die Endgültigkeit seiner Worte ließen mich zurücktaumeln.

Obwohl Atlas nur wenige Meter vor mir stand, erkannte ich ihn nicht wieder. Die Härte seines Auftretens unterschied sich so von dem Mann, den ich kennengelernt hatte. Nicht mal als er in Form des Knochenmannes war, hatte er mich derartig behandelt.

Doch anstatt ihn anzuschreien, und zu fragen, was das alles sollte, verließ nur ein klägliches ,,Warum?'', meine trockenen Lippen. Ich versuchte, aufrecht stehen zu bleiben und nicht schwach zu wirken, doch ich spürte, wie meine Muskeln schon wieder nachgaben.

,,Dass mit dir war der größte Fehler, den ich jemals begangen habe. Wenn ich könnte, würde ich alles rückgängig machen, sodass ich an jenem Tag nicht das Krankenhaus betreten hätte und dir nicht begegnet wäre.''

Mir blieb die Luft weg.

Er wusste genau, was er mir mit seinen Worten antat, doch es war ihm gleichgültig.

Seine Augen, die voller Hass und Abscheu waren, schauten mir ein letztes Mal tief in die Augen.

Ich konnte förmlich spüren, wie mein Herz quälend langsam in Zwei gerissen wurde.

,,Ich hätte mich niemals auf jemanden einlassen sollen, der dazu bestimmt war, in wenigen Wochen zu sterben. Es war eine reine Zeitverschwendung.''

Ich versuchte zu Atmen zwischen all den Worten, die mir das Herz brachen.

Doch ich konnte nicht.

Ich holte Luft, doch kein Sauerstoff erreichte meine Lungen.

Ohne sich zu verabschieden oder mir noch einen letzten Blick zuzuwerfen, verschlang ihn der Nebel.

Und so verschwand er wenige Augenblicke später einfach so aus meinem Leben, hinterließ nichts außer der Stelle, an der er gerade noch gestanden hatte, fast so, als wäre er nie da gewesen, während er einen Teil von mir mit sich nahm, den ich für immer verloren hatte.

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