Soulless - Auf ewig verbunden

By freezing_storm

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„Ihre Zeit ist gekommen", ertönte Athanasios' dunkle Stimme durch den dichten Nebel. ,,Ich werde sie nicht s... More

Aesthetics
Prolog
Kapitel 1: Sol
Kapitel 2: Atlas
Kapitel 3: Sol
Kapitel 5: Sol
Kapitel 6: Atlas
Kapitel 7: Sol
Kapitel 8: Sol
Kapitel 9: Atlas
Kapitel 10: Sol
Kapitel 11: Sol
Kapitel 12: Sol
Kapitel 13: Atlas
Kapitel 14: Sol
Kapitel 15: Sol
Kapitel 16: Sol
Kapitel 17: Sol
Kapitel 18: Atlas
Kapitel 19: Sol
Kapitel 20: Atlas
Kapitel 21: Sol
Kapitel 22: Atlas
Kapitel 23: Atlas
Kapitel 24: Atlas
Kapitel 25: Sol
Kapitel 26: Atlas
Kapitel 27: Sol
Kapitel 28: Sol
Kapitel 29: Sol
Kapitel 30: Sol
Kapitel 31: Atlas
Kapitel 32: Atlas
Kapitel 33: Sol
Kapitel 34: Sol
Kapitel 35: Sol
Kapitel 36: Sol
Kapitel 37: Sol
Kapitel 38: Sol
Kapitel 39: Sol
Kapitel 40: Atlas
Kapitel 41: Sol
Kapitel 42: Sol
Kapitel 43: Sol
Kapitel 44: Atlas
Kapitel 45: Atlas
Kapitel 46: Sol
Kapitel 47: Atlas
Kapitel 48: Sol
Kapitel 49: Sol
Kapitel 50: Sol
Epilog
Nachwort

Kapitel 4: Sol

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By freezing_storm

Eine halbe Stunde später stand ich vor meiner Wohnungstür und schloss sie mit zittrigen Händen auf.

,,Was für ein Tag'', stöhnte ich laut auf und ließ meinen kleinen Rucksack achtlos auf den billigen Linoleumfußboden fallen. In Rekordgeschwindigkeit streifte ich meine Jacke ab und schmiss sie auf den kleinen Hocker, der neben einer schmalen Kommode stand. Meine Schuhe ließ ich mitten im Flur stehen und schlüpfte in meine warmen Dino-Hausschuhe.

Sie waren ein Geschenk von meiner Schwester zu meinem fünfundzwanzigsten Geburtstag gewesen. Hailee musste jedes Mal schmunzeln, wenn sie mich mit den Hausschuhen sah. Meine Mom sagte immer, jetzt würde nur noch das passende Kostüm dazu fehlen. Ich hatte die leise Vermutung, dass sie es mir zu Weihnachten schenken wollten. Nur war ich mir seit heute nicht mehr sicher, ob ich es bis dahin schaffen würde.

Wahrscheinlich eher nicht.

Schnell verwarf ich die negativen Gedanken, hob die Taschen an und stolzierte mit vollen Händen in Richtung der kleinen Eckküche. Ich stellte die Einkaufstüten auf den Tisch und machte mich daran, die Inhalte auszubreiten.

Ich lebte seit zwei Jahren allein in dieser Wohnung. Es war nicht unbedingt die beste Gegend, doch es reichte vollkommen aus. Ich war gerade mal so in der Lage, zwanzig Quadratmeter in diesem Stadtteil bezahlen zu können. Deshalb beschwerte ich mich nicht. Ich hatte alles, was ich zum Leben brauchte. Eine Tür, die ich zuschließen konnte, ein Badezimmer mit einer Dusche und einen etwas größeren Raum, in dem sich Küche, Wohnzimmer und ein schmales Bett befanden. Es war ideal. Ich brauchte nicht mehr. Das hatte ich nie.

Umso besser war es, dass seit einem Jahr meine kleine Schwester nur wenige Blocks von mir entfernt wohnte. Sie war ebenfalls nach Philadelphia gezogen, um hier nach ihrem Studium zu arbeiten. Ob es für sie die richtige Entscheidung war, konnte ich nicht wirklich abschätzen. Hailee war schon immer ein eher verschlossener Mensch gewesen, der seine Gefühle nur wenig mit seiner Umwelt teilte. Auch wenn ich ihre große Schwester war und wir ein gutes Verhältnis hatten, fiel es ihr schwer, sich mir anzuvertrauen. Doch ich drängte sie nicht dazu. Sie wusste, dass sie immer zu mir kommen konnte, wenn sie jemanden zum Reden brauchte. Auch wenn ich ein sehr aufbrausender Mensch war, konnte ich in den wichtigen Momenten den Mund halten. Zumindest versuchte ich es.

Eher platzt du vor Neugier, mischte sich Amy wieder einmal in meine Gedanken ein.

Obwohl ich es nicht wollte, musste ich schmunzeln. Denn irgendwie hatte Amy recht. Ich versuchte es mir nicht anmerken zu lassen, aber wenn Hailee mal wieder einen dieser Tage hatte, an denen sie nicht mit der Sprache herausrücken wollte, obwohl klar war, dass sie etwas bedrückte, brodelte es in mir. Wie ein dampfender Vulkan. Manchmal, da hatte ich Angst, dass weißer Rauch aus meinen Nasenlöchern und Ohren herauskam, so sehr kochte es in mir. Aber wenn ich eins im Leben mit meiner Schwester gelernt hatte, dann, dass man sie zu nichts drängen durfte. Denn häufig, wenn man ihr eine Entscheidung versuchte aufzuzwingen, machte sie genau das Gegenteil davon.

So war sie schon immer gewesen und wahrscheinlich würde sie auch immer so bleiben. Nur, dass ich das wahrscheinlich niemals herausfinden würde. Es versetzte mir einen Stich, dass ich nicht sehen würde, wen Hailee einmal heiraten würde. Ich würde ihr nicht zur Seite stehen können, wenn sie Probleme hatte oder einen Rat bräuchte.

Ich schüttelte den Kopf, um auch diesen Gedanken in die hinterste Ecke meines Gehirns zu verbannen. Immer positiv bleiben, redete ich mir ein und legte dabei die nötigten Zutaten vor mir auf die Arbeitsfläche.

Während ich einen Topf mit Wasser befüllte und auf die Herdplatte stellte, schnitt ich gedankenverloren die Tomaten und gab sie in eine flache Pfanne. Hailee würde in einer Dreiviertelstunde zu mir zum Essen kommen, so wie jeden Mittwochabend.

Ich hatte also noch genug Zeit, um Brownies zu backen. Wenn Hailee kam oder man mit ihr unterwegs war, musste man immer etwas Süßes dabei haben. Sonst überlebte man den Tag nicht. Gib ihr Kuchen oder irgendetwas, was ihren Blutzucker hochfährt, und sie bekommt gute Laune. Manchmal, da hatte ich das Gefühl, dass die Snickers-Werbung extra für meine Schwester gedreht wurde. Ich kannte niemanden, der so viel Süßkram hintereinander essen konnte, ohne dass demjenigen schlecht wurde.

Nach wenigen Minuten hatte ich alle Zutaten zusammengerührt und die Teigmasse in den Ofen geschoben.

Mit schnellen Handgriffen schnitt ich eine Zwiebel in kleine Würfel und gab sie zu den Tomaten. Der Dampf, der aus dem kochenden Nudelwasser entrann, benetzte den billigen Hängeschrank, der direkt über der Herdfläche platziert war. Das Holz war längst abgenutzt und hatte durch die Feuchtigkeit über die Zeit, in der ich hier wohnte, verdächtige Wellen geformt. Ich war gespannt, wie lange die Konstruktion meine Teller und Tassen noch aushalten würde.

Plötzlich ertönte ein lautes Krachen. Ich zuckte unwillkürlich zusammen und ließ vor lauter Schreck das Schneidbrett aus meinen Händen fallen. Sofort tauchte der Mann mit der Waffe vor meinem inneren Auge auf. Ich klammerte mich reflexartig an der Arbeitsfläche fest und schloss die Augen. Mein Herz begann zu rasen und kalter Schweiß bildete sich auf meiner Stirn. Wie ein Film, den man immer wieder abspielte, hatte sich dieser Moment in meine Erinnerungen gebrannt. Meine Atmung ging stoßweise. Alles war gut, es war nur ein Geräusch von draußen gewesen.

Beruhige dich. Du bist hier, in deiner Wohnung, weit weg von dieser Gasse.

Es war so real gewesen.

Und doch war es nicht echt. Zumindest redete ich mir das noch immer ein.

Du hast es mit eigenen Augen gesehen, flüsterte Amy und verunsicherte mich damit nur noch mehr. Sie hatte recht. Ich wusste, was ich gesehen, gefühlt und gerochen hatte. Es war fast schon unmöglich, dass ich mir all das nur eingebildet hatte.

Aber gleichzeitig war da diese Frau, die eine völlig andere Geschichte erzählt hatte.

Wenn man einmal mit klarem Verstand an die Sache heranging, war irgendetwas an der gesamten Geschichte faul.

Es gab genau zwei Optionen.

Entweder ich war verrückt und Amy war gerade dabei, meine Gedanken auf solch kranke Art und Weise zu manipulieren, dass ich geglaubt hatte, von jemandem in einer dunklen Gasse erschossen worden zu sein. Dazu kam, dass der attraktive Fremde, den ich nur wenige Minuten zuvor im Krankenhaus gesehen hatte, aus einer Nebelwand zu meiner Hilfe gekommen war und die Kugel, die von Zauberhand in der Luft geschwebt hatte, in seine Jackentasche gesteckt hatte. Und natürlich nicht zu vergessen, dass er mir gesagt hatte, er würde mich holen kommen, was auch immer das bedeutete. Selbstverständlich hatte er sich wenige Augenblicke später im Nebel aufgelöst.

Genau. Das war die logische Sichtweise, Option eins.

Wenn man all die kuriosen Umstände mal außer Acht ließ, konnte ich mir trotzdem nicht erklären, wie ich von der Gasse mitten auf dem Gehweg gelandet war. Denn egal, welche Überlegungen ich anstellte, sie ergaben alle keinen Sinn.

Option zwei war, dass ich nicht verrückt war und ich nicht durchdrehte, sondern all das genau so passiert war. Ich konnte mich an nichts erinnern, was die Frau angeblich gesehen hatte. Auch wenn ich Halluzinationen gehabt hätte, hätte ich mich doch wenigstens an etwas erinnern müssen, von dem, was sie erzählt hatte. Oder?

Ich hoffe, du merkst selbst, wie bescheuert das klingt, warf Amy ein. Die hatte mir ausgerechnet jetzt noch gefehlt.

Obwohl meine Hände nass und klebrig waren, raufte ich mir die Haare und ließ stöhnend den Kopf auf die Arbeitsfläche fallen.

Das konnte doch alles nicht wahr sein. Schlimm genug, dass ich diese Diagnose heute bekommen hatte. Nein. Jetzt musste ich mich auch noch mit einem bipolaren Gehirntumor herumstreiten. Es war zum Verrücktwerden.

Und was in Gottes Namen hatte der attraktive Fremde mit der ganzen Sache zu tun? Warum war er plötzlich aufgetaucht? Warum ausgerechnet er?

Nichts ergab einen Sinn.

Im nächsten Moment erschreckte ich das zweite Mal innerhalb weniger Minuten, als die Tür lautstark ins Schloss fiel und ein mürrisches ,,Ich bin da'' vom Flur ertönte.

Kurze Zeit später kam Hailee um die Ecke und ließ sich kraftlos auf das schmale Stoffsofa fallen.

,,Was für ein beschissener Tag'', murmelte sie von der Couch, während ich mich daran machte, die Brownies aus dem Ofen zu holen.

Das kann sie laut sagen, stimmten Amy und ich ihr gedanklich zu.

Als der Geruch von den süßen Brownies Hailees Schnüffelnase erreichte, richtete sie sich kerzengerade auf. Ihre Augen wurden groß, als sie die Schokoküchlein erblickte. Ein Lächeln breitete sich auf ihrem zuvor mürrischem Gesicht aus. Schneller als ich erwartet hatte, hievte sie sich von der Couch hoch und rannte mit ausgebreiteten Armen in meine Richtung.

,,Du bist die beste große Schwester, die man sich wünschen kann.'' Sie schloss mich in die Arme und drückte mir einen kurzen Kuss auf die Wange. Ein paar ihrer honigbraunen Strähnen kitzelten mich an der Wange, während ein leichter Duft von Kokosnuss mir in die Nase stieg.

,,Das will ich meinen. Ich bin schließlich deine einzige Schwester.''

Doch sie hörte mir schon nicht mehr zu. Ihr Fokus war auf die dampfenden Brownies gerichtet, die ich gerade aus dem Ofen genommen hatte. Ich stemmte meine Arme in die Seiten. ,,Denk nicht mal dran, dir etwas zu stibitzen. Sie müssen erst abkühlen, sonst verbrennst du dich wieder wie beim letzten Mal.''

Sie zog einen Schmollmund, doch dieses Mal ließ ich mich nicht erweichen.

,,Setz dich. Das Essen ist gleich fertig. Und denk dran. Du bekommst erst etwas Süßes, wenn...''

,,Ich etwas richtiges gegessen habe. Schon klar, Mom. Ich habe verstanden'', murrte sie und ließ sich geräuschvoll auf einen der Stühle fallen. Schnell goss ich das Wasser der Nudeln ab und vermischte es mit der Tomatensoße.

Während ich die Pasta auf zwei Teller verteilte, beobachtete ich Hailee aus den Augenwinkeln, wie sie auf ihrer Gabel kaute und dabei sehnsuchtsvoll die Brownies anstarrte. So eine Liebe musste schön sein, dachte ich und konnte mir dabei ein Lächeln nicht verkneifen.

,,Warum bist du eigentlich schon zu Hause? Durftest du heute eher gehen?''

Ich erstarrte mitten in der Bewegung. Mein Lächeln verrutschte für einige Augenblicke. Hailee schien davon nichts mitzubekommen, da sie noch immer die Brownies gedankenverloren anstarrte. Schnell fing ich mich wieder und stellte die Teller vor mir auf dem Tisch ab.

Ich befeuchtete meine Lippen, da ich das Gefühl hatte, sie würden jeden Augenblick austrocknen.

,,Ja, Mr. Goldmann hat mir heute eher Feierabend gegeben.''

Schnell stopfte ich mir eine Gabel voll Nudeln in den Mund, damit sie meine Lüge nicht entlarvte. Ich durfte keine Details nennen, sonst wäre es nicht glaubwürdig. Einfache und klare Sätze.

Die Nudeln waren selbstverständlich so heiß, dass ich mir den Mund verbrannte. Am liebsten hätte ich sie sofort wieder ausgespuckt, doch ich schluckte sie herunter, um keine Aufmerksamkeit zu erregen.

Na? Wer hat sich jetzt den Mund verbrannt, stichelte Amy und ich zeigte ihr innerlich den Mittelfinger.

,,Aha'', antwortete Hailee gedehnt und schaute mich dabei mit ihren mintgrünen Argusaugen abschätzend an. Ich schluckte hart unter ihrem intensiven Blick und bemühte mich, ihr nicht direkt in die Augen zu schauen. ,,Das ist ungewöhnlich für Mr. Goldmann'', fügte sie argwöhnisch hinzu, während sie sich leicht über den Tisch beugte.

Sei einfach normal, beruhigte ich mich.

,,Das dachte ich auch. Aber zu einem freien Abend sag ich nicht nein'', plapperte ich und warf freudig die Hände in die Luft. Okay. Das war eindeutig zu viel.

,,Wenn du das sagst. Er hat dir doch nicht gekündigt, oder?'', fragte sie mit einem misstrauischen Unterton.

,,Was? Nein? Wie kommst du darauf?'', rief ich lachend und schüttelte dabei amüsiert den Kopf. Mein Longbob flog bei meinem energischen Kopfrütteln wild durch die Gegend, sodass ich mich beinahe an einer Haarsträhne verschluckte, die mir geradewegs in den geöffneten Mund geflogen war.

Du machst es super unauffällig, warf Amy ein und ich hasste sie dafür.

Sofort lösten sich Hailees verkrampfte Gesichtszüge und sie atmete erleichtert auf.

,,Naja, normalerweise bist du nicht vor acht Uhr zu Hause und das ist schon früh. Aber wer weiß, was deinem Kotzbrocken von Chef über die Leber gelaufen ist. Ich bin froh, dass du heute nicht so lange arbeiten musst. Ich habe sowieso kein gutes Gefühl dabei, wenn du abends allein durch die Straßen läufst.''

,,Du brauchst dir keine Sorgen um mich machen. Mir passiert schon nichts'', beruhigte ich sie und ergriff ihre Hand.

Lüge, schrie Amy empört auf, doch ich ignorierte sie.

Ich bemühte mich, ein ehrliches Lächeln aufzusetzen, sodass Hailee keinen Verdacht schöpfte. Sie nickte und wandte sich wieder ihrem Essen zu. Lustlos stocherte sie in ihren Nudeln, während ihr sehnsuchtsvoller Blick an mir vorbei gerichtet war.

,,Jetz tu mal nicht so, als bestünden die Nudeln aus Pappe'', murmelte ich und fuchtelte ihr vor dem Gesicht herum.

,,Du weißt, wie ich bin, wenn ich etwas Süßes sehe. Es ist wie eine Sucht.''

Verträumt stützte sie sich auf ihren Händen ab und schielte geradewegs an mir vorbei.

,,Hm. Ich weiß.'' Ich tat ihr die Geste nach und starrte Löcher in die Wände. Dieses Gefühl, etwas zu wollen, was zum Greifen nah schien, aber unerreichbar war, kannte ich seit heute Nachmittag zu gut.  Das dumpfe Pochen in meiner Brust wurde immer lauter, je länger wir uns anschwiegen. Was der mysteriöse Fremde wohl gerade machte?

Ich bemerkte zu spät, dass Hailee sich wieder mir zugewandt hatte und mich nun mit ihren Argusaugen fokussierte.

,,Ist heute etwas vorgefallen, von dem du mir nichts erzählst?''

Ertappt schüttelte ich den Kopf und machte eine verneinende Handbewegung. ,,Nein. Es ist nichts'', antwortete ich ein wenig zu energisch und merkte dabei, wie mir die Röte ins Gesicht stieg.

Ihr einnehmender Blick lag noch immer abschätzend auf mir. Sie musste etwas ahnen. Ich war schon immer eine verdammt schlechte Lügnerin gewesen.

Warum nur wundert mich das nicht, schaltete sich Amy rein.

Deine verdammten Nebenkommentare sind nicht hilfreich, Amy.

Hailee legte den Kopf schief. ,,Es ist nur, du wirkst heute so bedrückt. So kenne ich dich normalerweise nicht. Sonst hast du immer dieses penetrante Honigskuchenpferdlächeln auf deinem Gesicht.'' Dabei zog sie die Stirn in Falten und deutete mit ihrer freien Hand auf meine Lippen, die kaum merklich zitterten.

Sofort erkannte ich meinen Fehler und setzte ein Lächeln auf. Ich durfte ihr keinen weiteren Grund geben, an mir zu zweifeln.

,,Oh! Ich hab's. Es ist dieser Typ, oder?'', rief sie aufregt und knallte dabei lautstark ihre Faust auf den Tisch, sodass ich erschrocken zusammenzuckte.

Irritiert starrte ich sie an. Woher wusste sie von dem attraktiven Fremden?

,,Wie hieß er noch? Warte, ich hab's gleich.'' Angestrengt griff sie sich an ihren Kopf und schien fieberhaft zu überlegen. Plötzlich riss sie die Augen auf.

,,Jimmy, diese dämliche Eintagsfliege. Hat er dich wieder belästigt?'', schrie sie aufgebracht. Ihre Gesichtsmuskeln verhärteten sich und ich sah, wie die Ader an ihrer Schläfe bedrohlich pochte. 

Ich seufzte erleichtert auf. Sie redete von Jimmy, nicht von dem attraktiven Fremden. Sol, du bist echt nicht mehr ganz dicht. Woher sollte sie ihn auch kennen? Bekomm ihn endlich aus deinem Dickschädel.

Das sind meine Worte, Schwester, stimmte Amy meiner anderen Stimme zu. Wenn das so weiter ging mit den beiden, würde ich wahnsinnig werden.

Als meine Gedanken weiter zu Jimmy wanderten, stöhnte ich genervt auf und versteckte mein Gesicht hinter meinen Händen. Nicht dieses Thema schon wieder. Jimmy konnte mir mit seinem schmierigen Gehabe gestohlen bleiben. Und doch war ich froh über den Themenwechsel.

,,Er weicht mir nicht von der Seite'', murrte ich und stieß die angestaute Luft aus.

,,Er ist ein Ekel'', stimmte Hailee mir zu.

,,Ich habe ihm schon mehrmals auf freundliche Art erklärt, dass das mit uns nichts wird. Doch er versteht es nicht.''

Nun war es Hailee, die eine Hand auf meinen Arm legte.

,,Sol, du bist einfach viel zu lieb für diese Welt. Du musst ihm eine knallharte Abfuhr erteilen.''

,,So wie du es machen würdest? Du weißt, das kann ich nicht.''

,,Und ob du das kannst. Immerhin sind wir Schwestern. Ein bisschen böses Blut muss auch durch deine Venen fließen. Obwohl, wenn ich es mir recht überlege, scheint all das Dunkle in mir zu sein. ''

Wieder stöhnte ich auf. ,,Immerhin wirst du nicht von einem Perversen belagert.''

Sie nickte. ,,Da hast du wohl recht. Warum täuschen du und Eliah nicht eine Beziehung vor?'', fragte sie neugierig.

Ich verdrehte die Augen und ließ mich in meinem Sitz zurückfallen.

,,Vielleicht, weil Eliah schwul ist und alle anderen das auch wissen?''

,,Stimmt. Das habe ich wohl vergessen'', sagte sie und zuckte mit den Schultern. ,,Sag ihm morgen einfach, was Sache ist. Egal, ob du dabei seine Gefühle verletzt. Du kannst nicht alle retten. Schau mich an. Du versuchst es seit zwanzig Jahren und es ist immer noch keine Besserung in Sicht.''

Ich beugte mich über den Tisch und schnipste ihr gegen die Stirn. ,,Sehr witzig, du Spaßvogel. Aber du hast schon recht. Morgen werde ich es anpacken. Ganz bestimmt.'' Obwohl ich mir nicht sicher war, ob ich dazu überhaupt fähig war.

Jimmy konnte ziemlich penetrant sein, wenn er einmal Blut geleckt hatte. Er war wie eine lästige Zecke, die sich an einem festkrallte und nicht mehr losließ, bis er das hatte, was er wollte. Und dieses Mal wollte er eindeutig mich. Doch ich würde ihm eher ins Gesicht kotzen, als in Erwägung zu ziehen, mit ihm auszugehen.

Er war kein guter Mensch. Ich bekam jedes Mal eine unangenehme Gänsehaut, wenn sein gieriger Blick über meinen Körper wanderte. Er war der Grund, warum ich nur noch weite Pullover und Hosen trug.

Wenn Eliah, mein Arbeitskollege und bester Freund, nur nicht so schüchtern wäre, könnte er mich vor ihm beschützen. Doch er hatte mindestens genau so viel Angst vor Jimmy wie ich. Wenn nicht sogar mehr. Doch ich nahm es Eliah nicht übel. Ich war froh, ihn an meiner Seite zu haben.

,,So, ich habe alles aufgegessen. Jetzt der Nachtisch?'', rief Hailee aufgeregt und steuerte sabbernd auf die Brownies zu.

,,Bediene dich. Du kannst alles haben.''

Das ließ sich Hailee nicht zweimal sagen. Nach zwanzig Minuten hatte sie die acht Brownies weggeputzt und rieb sich nun schmerzend den Bauch.

Ich betrachtete sie lächelnd und redete mir ein, dass heute ein ganz normaler Mittwochabend war in einem ganz normalen Leben. Ich bemühte mich, die Erinnerung an heute Nachmittag zu verdrängen. Als wäre meine Welt nicht zweimal komplett aus den Angeln gehoben worden und als wären diese seltsamen Dinge nicht passiert. Ganz so, als wäre der attraktive Fremde nicht real und ich würde nicht die ganze Zeit dieses dumpfe Pochen in meiner Brust spüren.

Ganz so, als wäre die Sehnsucht nach ihm nicht zum Greifen nah und als würde sie mir keine körperlichen Schmerzen zufügen.

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