Rumänischer Schnee
Clara Matei behielt recht. Der Sommer war in Rumänien vorbei. Laub bedeckte nun alle Wege und an manchen Tagen bekam Maisie nicht einmal die Gelegenheit ihre Kapuze abzustreifen, so hartnäckig fiel der Regen.
Bei ihrem Projekt kamen sie und Charlie Weasley nur langsam voran. Das männliche Opalauge ließ sich inzwischen schon ohne Schlaftrank untersuchen, was Maisie leider zum größten Teil Charlie zuschreiben musste. Vor dem Winter sollte sie ebenfalls mit dem Weibchen fertig sein, doch dort endete es jedes Mal in einem Streit.
An einem kalten November Tag kniete Maisie nun neben dem schillernden Männchen und hinter ihr raschelte Charlie mit Papieren. In den wenigen Wochen hatte er den Drachen so weit trainiert, dass dieser sich auf einen Befehl hin auf den Boden legte. Natürlich nur weil er danach immer die saftigsten Fleischbrocken bekam.
Maisies klamme Finger steckten in dicken Lederhandschuhen und sie war beinah schon dankbar für den Feueratem, der aus den Nüstern der Echse kam.
Der Drache blieb ruhig, während sie seine Lefzen hochzog.
"Die erste Reihe sieht gut aus." Mit ihrem Finger ging Maisie die Zähne entlang. Obwohl das Männchen noch nicht ausgewachsen war, hatten die Reißzähne schon die Ausmaße ihrer Handfläche. "Der hintere Eckzahn, zweiter von rechts, ist angeschlagen." Sie konnte hören wie Charlie mitschrieb. "In der unteren Reihe, auf der rechten Seite, fehlen zwei Backenzähne. Einer scheint gerade durchzukommen." Sie berührte die Stelle und sofort schüttelte der Drachen unwillig den großen Kopf. Als er sich wieder beruhigt hatte, machte sich Maisie an die nächste Seite. "Ein Eckzahn, der-" Mit gerunzelter Stirn zählte sie durch. "-fünfte von Links, fehlt. Anscheinend ausgebissen. Aber es schiebt sich schon ein neuer durch."
"Was ist mit den Backenzähnen dort?"
"Alle vorhanden. Der Hinterste sieht nur etwas angeschlagen aus."
"Sehr gut." Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Charlie aufstand und sofort entzog ihr das Opalauge seinen Kopf. Hastig sprang Maisie zurück, als Charlie auch schon ein blutiges Stück Fleisch in die Luft warf und der Drache vorschnellte.
Der riesige Kiefer schnappte dort zu, wo sie eben noch gehockt hatte, und nicht zum ersten Mal fragte Maisie sich, ob Charlie Weasley sie umbringen wollte. Es würde nach den letzten Wochen nicht überraschen.
Während Charlie dafür sorgte, dass sie mit einem leeren Eimer zur Futterstation zurückkehren konnten, trat Maisie bereits wieder aus dem Käfig. Nicht weit entfernt sah sie Olafs großen, blonden Kopf und er nickte ihr zu, bevor er mit einem anderen Zauberer in den Käfig des jungen Eisenbauchs trat.
Wie immer hatte Maisie ihre Sachen auf einen Haufen vor dem Käfig geschmissen und nun zog sie sich fröstelnd ihren mitgebrachten Pullover über die Arbeitskleidung.
"Ernsthaft?" Charlie trat mit blutigen Händen neben sie und wie er warf Maisie einen Blick auf ihren Pullover. Es war einer ihrer Huffelpuff Pullover im verwaschenem Gelb-Schwarz. Direkt auf ihrer Brust befand sich ein gestickter Dachs.
Maisie reichte ihm ein bereits dreckiges Tuch. "Du bist doch nur neidisch, weil du deine Hausfarben nicht tragen kannst."
"Wie bitte?" Er hob eine helle Augenbraue. Über die letzten Wochen war Maisie aufgefallen, dass seine Sommersprossen weniger wurden. Trotzdem waren selbst seine Augenlieder und Lippen noch bedeckt.
"Rot und Gold verträgt sich halt nicht so gut mit deiner Haarfarbe, Weasley."
Für einen Moment hätte sie schwören können, dass seine sommersprossigen Mundwinkel zuckten, bevor er antwortete, "Dafür habe ich nicht die hässlichsten Hausfarben. Also bitte, Gelb und Schwarz?"
"Bei uns kommt es immerhin nicht nur darauf an, dass wir Knochen brechen können, während wir allen etwas über unseren Löwenmut erzählen. Bei Huffelpuff bekommt jeder eine Chance, ganz gleich-"
Charlie unterbrach sie, "Knochen brechen kannst du aber auch ganz gut, Fusty."
"Das hattest du verdient!"
"Nur weil wir den Pokal gewonnen haben?"
"Wir waren besser als ihr! Hätte Slytherin im letzten Spiel nicht so schlecht gespielt, dann hätte ihr den Pokal nicht geschenkt bekommen-"
"Ich meinte nicht nur meine Nase." Er stemmte die Hände in die Hüften und plötzlich erinnerte er Maisie an seine Mutter. Was es für sie nicht einfacher machte ernst zu bleiben. "Ich meinte auch McFaddens Bein oder Emilys Arm. Und nicht zu vergessen Dans Rippen."
"Merlin, das war vor Jahren. Außerdem kann ich nichts dafür, wenn sie mir im Weg waren. So ist Quidditch nun einmal-"
"Du hättest den Job ruhig deinen Treibern überlassen können. Meine Spielern waren keine Klatscher!"
"Nur weil ich einmal das Schlagholz in der Hand hatte-"
"Du hast damit Emilys Arm gebrochen?!"
"Das war ein einziges Mal! Und du hattest ja auch mehr als genug Spaß mich deshalb mitten im Spiel anzuschreien-"
"Weil du ihren Arm gebrochen hast!"
"Wohmöglich war das nicht mit Absicht, du Hornochse!"
"Bei Merlins Bart, du warst Hüterin. Weißt du, wo normalerweise Hüter bleiben? Vor ihren Ringen."
"Sagt der Sucher, der sich um alles gekümmert hat, außer den Schnatz. Denn das wäre dein Job gewesen, Weasley."
"Und genau deshalb haben wir auch jedes Jahr den Pokal bekommen, Fusty."
"Den habt ihr nur bekommen, weil die anderen Teams so schlecht waren. Ich muss dich wohl kaum daran erinnern, dass wir euch jedes Jahr fertig gemacht haben-"
"In deinen Träumen vielleicht."
Maisie setzte bereits zu einer neuen Beleidigung an, als sie von einem Ruf unterbrochen wurde.
"Leute! Hey Leute." Eine bekannte blauhaarige Hexe landete mehr oder weniger zwischen ihnen. Nicht zum ersten Mal fragte sich Maisie, ob Siobhán genauso wie Ewan den Flugunterichts als Erstklässler geschwänzt hatte.
"Was ist los, Sia?" Charlie machte ein besorgtes Gesicht, obwohl Siobhán ihn mit geröteten Wangen anstrahlte.
"Wer macht hier so einen Radau?" Olaf kam aus dem Käfig des Eisenbauches und mit zusammengekniffen Augen starrte er Siobhán an.
"Ratet, wer wieder mit den Drachen arbeiten darf." Sie grinste glücklich und schnell legte Maisie auch ein Lächeln auf.
"Das ist ja wundervoll."
Olaf und Charlie verhielten sich verhaltener.
"Möge uns Odin beistehen." Olaf klopfte Sia auf den Rücken, bevor er wieder zurück stapfte.
"Wieso hat der Chef denn seine Meinung geändert?" Charlie schien hin und her gerissen.
"Ich hab euch auch lieb." Siobhán schien die Reaktion ihrer Freunde nicht zu stören. "Er braucht mehr Leute für den Winter und außerdem ist er mir immer noch für das Opalauge dankbar."
"Na dann wünsch ich dir alles Gute." Charlie lächelte nun ebenfalls. Allerdings schien es nicht seine Augen zu erreichen.
"Danke, danke." Sia schwang sich wieder auf ihren Besen. "Ich muss jetzt Ewan suchen. Euch noch viel Spaß!"
Sie verschwand in Richtung Station und Maisie war sich sicher sie glücklich singen zu hören.
"Wir sollten auch Schluss machen."
"Bitte?" Überrascht sah Maisie dabei zu, wie Charlie seine Sachen zusammen suchte.
"Du warst doch später mit Clara verabredet, oder?" Charlie schwang sich seine Tasche um und automatisch tat es ihm Maisie nach.
"Ich wollte sie auf der Heilerstation abholen."
"Sehr gut." Charlie stieg auf seinen Besen und immer noch verwirrt folgte ihm Maisie in die Luft.
"Was hast du vor?"
Er seufzte und ließ sich nach vorne auf seinen Besenstiel fallen. "Nachschauen wem Sia zugeteilt wurde."
Sie flogen dicht über den Bäumen und Maisie konnte mit ihren Füßen die Spitzen der Tannen berühren. "Warum macht ihr euch alle so Sorgen um Siobhán?"
"Das ist dir aufgefallen?" Er warf ihr einen Blick von der Seite zu, bevor er erneut seufzte. "Am Besten fragst du sie, warum sie überhaupt an den Schreibtisch musste."
"Super." Nun war es an Maisie zu seufzen.
Gerade als sie bei der Station ankamen, berührte etwas Nasses Maisies Wange. In der Erwartung von Regen wollte sie schon ihre Kapuze überziehen, doch Charlie hielt sie auf und deutete zum Himmel. Sein eben noch ernstes Gesicht hellte sich auf und wenn Maisie vorher verwirrt gewesen war, so war sie es angesichts der dicken, weißen Flocken nun vollends.
"Was bei Morganas-" Sie streckte die Hand aus und es war eindeutig Schnee, der auf ihren Fingern landete.
"Du bist doch Schottin." Charlie fuhr sich durch die roten Haare, die bereits voller Flocken waren. "Müsstest du nicht Schnee gewohnt sein?"
"Ich bin auf einer Insel aufgewachsen?" Maisie drehte sich auf der Stelle und es kümmerte sie kein Stück, was die vorbeieilenden Drachenwärter von ihr dachten. "Außerdem ist es November, du Doofkopf."
"Willkommen in Rumänien." Charlie lächelte nun wirklich und selbst Maisie fiel in diesem Moment nichts Böses ein. "Grüß Clara von mir." Mit einem Winken drehte er sich um.
Immer noch grinsend stapfte Maisie von der Drachenwärter Station zu dem länglichen Gebäude, in dem die Heiler des Reservats arbeiteten. Ihre Stiefel wirbelten bereits Schnee vom Boden auf.
Und obwohl Maisie wusste, dass der Schnee vermutlich nicht liegen bleiben würde und der Winter für Drachenwärter wie sie eigentlich nur Arbeit bedeutete, konnte sie sich nur freuen. Die dicken Flocken erinnerten sie an Hogwarts und an ihre Heimat.
In der Station versicherte ihr ein Heiler, dass Clara gleich kommen würde und mit verschränkten Armen wartete Maisie im Eingang. Gerade als sie hinter sich Schritte hörte, entdeckte sie blaue Haare und eine schlaksige Gestallt, in der sie Ewan erkannte.
Die beiden eilten in Richtung der Häuser und irgendetwas störte sie an dem Bild.
Als Clara sie allerdings strahlend begrüßte, hatte sie es schon wieder vergessen.