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Wenn du nicht lange fackeln solltest ...
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»Voilà, deine zukünftige Wohnung!«, verkündete ich Anna und wedelte grinsend mit dem Inserat vor ihrer Nase herum.

Ihre dunkelbraunen Augen, die mich ein wenig an Zartbitterschokade erinnerten, waren vor Erstaunen weit aufgerissen und auf das kleine Blatt Papier gerichtet, ehe sie es entgegennahm. Langsam stahl sich auch auf das ebenmäßige Gesicht meiner Freundin ein Lächeln, als sie den Zettel genauer unter die Lupe nahm. Diese verlockende Anzeige würde sie bestimmt endgültig davon überzeugen, dass Pendeln keine Dauerlösung für ein vernünftiges Studentenleben darstellte.

»Da du nicht gerade abgeneigt zu sein scheinst, würde ich sagen, wir statten denen gleich mal einen Besuch ab, bevor dir jemand dieses WG-Zimmer vor der Nase wegschnappt! Die Wohnungen hier sind begehrt wie warme Semmeln. Und diese hier«, erklärte ich und tippte einmal energisch auf die Annonce, »könnte nicht grandioser liegen! Schätzungsweise fünf Minuten Fußweg oder so. Das liegt einfach noch besser als meine Bruchbude.« Und vermutlich war sie auch um Längen komfortabler als mein Luxus-Apartment.

Wenn die Mitbewohner nicht vollkommene Idioten waren, dann musste sie diese Gelegenheit unverzüglich am Schopf packen. Da gab es gar nichts zu überlegen.

Anna fixierte zwar gerade noch etwas unschlüssig den Zettel in ihrer Hand, aber mich erfüllte bei meiner Idee so ein unfassbar gutes Gefühl – und auf mein Gefühl war in der Regel Verlass. Deswegen zerrte ich ohne Umschweife an ihrem Ärmel und zog sie zum Ausgang der lichtdurchfluteten Mensa-Vorhalle. Nachdem wir die Stahltreppen hinuntergesaust waren, bog ich rechts ab in Richtung angegebene Adresse.

Meinen Bauch durchströmte ein Kribbeln, das mein Herz höherschlagen ließ. Herrgott, konnte es sein, dass ich aufgeregter war als Anna? Zumindest machte sie eher einen ruhig-verträumten Eindruck, wie sie beim Überqueren der kleinen Brücke durch die Gegend stierte. Ich folgte ihrem Blick, der mich direkt zur Altmühl führte. Ein Fluss, der seinen Weg nicht nur durch ganz Eichstätt, sondern auch die ganze Region des Altmühltals bahnte und ihm somit seinen Namen verlieh.

An den Ufern des Gewässers ragten entweder alte Trauerweiden oder Büsche empor, deren Blätter gerade im Wind hin- und herwiegten. Es erweckte fast ein romantisches Flair – so wie eigentlich die gesamte Kleinstadt. Zum einen bestach Eichstätt durch seine barocken Gebäude im Kern, die nach dem Dreißigjährigen Krieg größtenteils von namhaften italienischen Künstlern, darunter Giacomo Angelini, Mauritio Pedetti und Gabriel de Gabrielli, erbaut worden waren. Das war für mich ein absoluter Pluspunkt, der mich dazu verleitete, immer mal wieder durch die Straßen der Altstadt zu schlendern, um Fotos zu schießen. Oder ich zückte kurzerhand Skizzenheft und Zeichenkohle, damit ich den Eindrücken Raum zum Ausdruck geben konnte.

Auf der anderen Seite bot Eichstätt eine wunderschöne Natur, die im Einklang mit der Architektur stand und in mir das Gefühl von Geborgenheit auslöste. Zwar wohnte ich erst wenige Wochen hier, kannte kaum jemanden, aber dennoch fühlte ich mich sehr wohl, weil dieses Städtchen einen ganz besonderen Charme versprühte.

Plötzlich riss mich meine Freundin aus meinen Gedanken, indem sie abrupt stehen blieb und mich mit großen Augen fixierte.

»Was ist denn los?« Sie bekam doch jetzt hoffentlich keine Zweifel!

»Das ist nicht dein Ernst, dass wir jetzt um neun in der Früh bei der WG aufschlagen?«, fragte mich Anna mit einem vielsagenden Blick.

Die Uhrzeit fällt ihr ja früh auf!

Aber wo sie recht hatte, hatte sie recht. Allerdings konnte man beim Eichstätter Wohnungsmarkt nicht lange fackeln, sondern musste sofort handeln. Es war eine ziemlich kleine Stadt mit nicht mal 14.000 Einwohnern, wenn man den Landkreis außer Acht ließ. Trotzdem verfügte sie über eine Universität — und die hatte sie dringend nötig.

UNAUSWEICHLICHWhere stories live. Discover now