17. Dezember

278 15 0
                                    

In sieben Tagen ist Weihnachten. In sechs Tagen ist der erste Todestag meiner Mutter. Ich habe Angst davor. Wovor explizit weiß ich nicht. Vielleicht einfach vor der Vorstellung, dass es schon ein Jahr her ist. Ein Jahr ist vergangen, seitdem ich meiner Mutter das letzte Mal in die Augen gesehen habe. Sie hatten ihren Glanz verloren und doch waren es die schönsten Augen auf der Welt für mich. Aus dem einfachen Grund, weil sie meiner Mutter gehörten, die mich immer mit purer Liebe angesehen hat.
Vor einem Jahr konnte ich mir gar nicht vorstellen wie es wohl sein mag eines Tages ohne sie zu leben. Ich wollte es mir auch gar nicht vorstellen. Es hätte mir mein Herz gebrochen.

Aber irgendwie habe ich es geschafft. Ich habe die erste schlimme Phase der Trauer überwunden. Es ist immer noch schwer für mich über diesen riesigen Verlust zu sprechen, aber ich habe mich an den Schmerz, den ihr Tod hinterlassen hat, gewöhnt. Der Schmerz wird immer da sein, aber ich lerne mit ihm zu leben. Und wer weiß, vielleicht wird er irgendwann weniger.
Am wichtigsten ist weiter zu machen und nicht aufzugeben.

Ich mache vor einem kleinen Blumenladen in London halt. Vor dem Laden stehen mehrere Weihnachtsbäume. Weil ich etwas anderes brauche, betrete ich den Laden und schaue mich um. Eine kurze Zeit später habe ich gefunden wonach ich gesucht habe. Ich ziehe zwei gelbe Gerbera aus einer Vase und gehe mit ihnen zur Kasse.

"Möchten sie noch etwas Grün um die zwei Blumen haben?" fragt mich die Verkäuferin freundlich.

"Nein, das geht so. Danke." antworte ich und zwinge mir ein Lächeln auf mein Gesicht. Heute ist einer dieser Tage, an denen ich mich am liebsten in meinem Bett verkriechen würde.

Ich zahle die zwei einzelnen Blumen und verlasse den Laden wieder. Mein Weg führt mich durch den Park und dann einige Haltestellen mit der U-Bahn zum Stadtrand Londons.
Nach einem kurzen Fußmarsch erreiche ich den Friedhof. Ich trete durch das kleine eiserne Tor. Wie üblich laufe ich ein Stück wahllos herum. Ich mag die Ruhe die hier herrscht. Niemand ist gestresst, keine Autos hupen wild. Es ist ruhig und friedlich. Aber dennoch spüre ich die überwältigende Trauer, die mich jedes mal mit sich reißt wie eine Sturmflut, wenn ich an den verschiedensten Gräbern entlangschlendere.

Und dann werde ich unter Wasser gedrückt. Ich bekomme keine Luft mehr und versuche panisch an die Oberfläche zu gelangen. Doch ich werde immer tiefer in die Fluten der Trauer getrieben, bis schließlich die erste Träne über meine Wange rollt. Es folgen ihr immer mehr. Bis ich vor dem Grab meiner Mutter in die Knie sinke und bitterlich weine.
Ein Schluchzer nach dem anderen verlässt meine Kehle. Meine Tränen fließen unaufhörlich.
Ich brauche eine Weile, um den Schmerz, der an diesem Ort am größten ist, zu ertragen.
Schließlich atme ich tief durch und streiche mir die Tränen aus dem Gesicht.

"Hallo Mama." sage ich leise, während sich ein kleines Lächeln auf meinem Gesicht ausbreitet.

Ich lege die zwei Gerbera auf ihr Grab. Eine auf den Grabstein und die andere auf die Wiese davor. Meine Mutter liebte Gerbera und besonders die gelben. Sie sagte immer, sie erinnern sie an die Sonnenstrahlen. Damit hatte sie recht. Die Blumen sind so gelb wie die Sonne.

"Ich weiß noch nicht, ob ich es an deinem-" meine Stimme bricht ab. Tief atme ich einmal durch.
"Du weißt was ich meine. Ich weiß nicht, ob ich es schaffe dann zu kommen. Es ist nicht nur, dass ich Angst davor habe. Ich habe Angst nicht genügend Kraft zu haben, um dich besuchen zu kommen.
Aber das ist nicht der einzige Grund. Anna feiert an Heiligabend eine Weihnachtsfeier. Und die Anreise ihrer Familie ist einen Tag davor. Es kann sein, dass ich dann keine Zeit finde, um hier her zu kommen. Ich plane die Feier für Anna, weil sie, wie du ja weißt, schwanger ist. Und ich plane sie mit ihrem Bruder, Aiden. Ich weiß nicht, ob du ihn mögen würdest. Aber so wie ich ihn kenne, würde er sich bei dir einschleimen. Wenn er will kann er wirklich höflich und zuvorkommend sein. Ein typischer Londoner Gentleman. Aber Aiden kann auch schwierig und anstrengend sein." Ich lege eine Pause ein.

"Ich weiß nicht wie ich es beschreiben soll. Er zieht mich körperlich und seelisch an. Aber dann stößt er mich mit der Art und Weise wie er agiert wieder von sich. Ich glaube, ich mag ihn. Vielleicht mehr als ich sollte.
Ich hätte so gerne von dir einen Rat gehört. Wenigstens dieses eine Mal."

Seufzend lasse ich meinen Blick schweifen. Die Sonne scheint durch die kahlen Äste der Bäume. Nur vor wenigen Gräbern stehen noch leuchtende Blumen. Im Sommer sieht es hier fast schon verboten schön aus. Vor fast jedem Grab gibt es diverse leuchtend bunte Blumen.
Das Grab meiner Mutter ist eines der letzen, an welchem es noch bunte Blumen gibt. Zwar bin ich nicht oft hier und kann  frische Blumen vorbeibringen. Doch es gibt andere Leute, die öfter herkommen und sich um das Grab meiner Mutter kümmern. So weit ich weiß, kommt meine Tante jede Woche hier her. Ich sollte sie dringend mal wieder anrufen.

"Also gut, Mama. Ich muss jetzt los. Falls ich es nicht noch einmal schaffe her zu kommen, wünsche ich dir wundervolle Weihnachten. Wir sehen uns dann im neuen Jahr. Ich hab dich lieb." Ich küsse zwei Finger und lege diese auf den kalten Grabstein.

Kurz schließe ich die Augen, bevor ich sie wieder öffne und aufstehe. Ich verlasse den Friedhof.
Der Besuch bei meiner Mutter lässt mich immer ruhig werden. Ich kann hier wieder zu mir selbst finden. Außerdem hilft es mir sehr mit ihr über meine Probleme und Gefühle zu sprechen. Ich weiß, sie kann mir nicht antworten, aber vielleicht ist es genau das, was mich befreit. Ich kann mich meiner Mutter öffnen, ohne dass sie über mich urteilt oder meine Entscheidungen kritisiert. Vielleicht tut sie das trotzdem, aber ich merke es nichts.
Dennoch versuche ich immer so zu handeln, wie meine Mutter es gerne von mir gesehen hätte. Ich versuche so zu leben, wie sie mich erzogen hat. Ich will sie mit Stolz und Glück erfüllen.

                                               

The Grinch and The Christmas AngelWhere stories live. Discover now