Kapitel 1: Lorraine

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(POV Merlin)

Scherben. Überall. Der Boden glitzerte im grellen Licht der Morgensonne. Inmitten eines Meeres aus schneidenden Glaspartikeln breitete sich rote Flüssigkeit aus und flutete die Zwischenräume der welligen Pflastersteine. Das Geräusch der zerplatzenden Glasflasche hallte noch in Merlins Ohren wider, als er sich auf die Knie stürzte, um die größten Scherben einzusammeln. Seine Wangen glühten ähnlich rot wie der Früchtetee, der sich vor ihm erstreckte. Wie peinlich. Am liebsten wäre er mit dem Tee zwischen den Pflastersteinen versickert.

»Volltrottel«, höhnte ein Junge und beobachtete grinsend, wie Merlin das Resultat seines Missgeschicks zu beseitigen versuchte. Er zückte sein Smartphone und begann die Situation zu filmen.

»S-sie ist mir aus der Hand ger-«, wisperte Merlin und kam mit seiner leisen Stimme kaum gegen die Umgebungsgeräusche an. Geschrei und laute Gespräche vermischten sich mit nervtötender Musik und den Klängen von Internetvideos, die sich auf Smartphonebildschirmen gegenseitig gezeigt wurden.
Mit jeder Regung bebten Merlins Arme stärker und das erschwerte sein Handeln. Sein Kopf fühlte sich heiß an und er kämpfte gegen ein Gefühl der Ohnmacht. Warum musste ausgerechnet ihm das passieren? Vor all den anderen? Ausgerechnet jetzt? Seine schwarzen Haare fielen ihm ins Gesicht und die Ärmel seines dunklen Karohemdes rutschten bis über seine kalkweißen Fingerknöchel. Er spürte die raue Struktur der Steine durch seine Hose an den Knien, während er am Boden kniete und die Scherben einsammelte. Seine Finger fühlten sich vom verschütteten Früchtetee feucht an. Dann zuckte Schmerz durch seine Handfläche und der Tee mischte sich mit Blut. Er ließ die Scherben fallen und betrachtete die Schnittwunde mit schockgeweiteten Augen. So etwas war ihm noch nie passiert. Blut. Er hat noch nie in seinem Leben geblutet. Er hielt dem filmenden Mitschüler seine Hand entgegen und schob mit der anderen seinen Vorhang aus Haaren aus dem Gesicht. »Kannst du mir helfen?«

Der Angesprochene verdrehte die Augen und steckte sein Smartphone weg. Er bedachte Merlin mit einem abschätzenden Blick, ehe er kopfschüttelnd die Szene hinter sich ließ.

Ein niederschmetternder Schauer rauschte durch Merlins Körper, während er dem Mitschüler nachsah. »Kannst du dann ... vielleicht jemanden holen, der ...« Seine Stimme erstarb, als der andere Junge sich außer Hörweite befand. »Schade«, wisperte er sich selbst zu und blickte auf seine blutende Hand herab. Rote Flüssigkeit tropfte von seinem Handgelenk. Seine Atmung wurde stockend. Was sollte er tun? Das Tee & Blutgemisch verunstaltete den gepflasterten Schulhofboden. Jeder Tropfen steigerte seine Nervosität. Was. Sollte. Er. Tun?
Kurz bevor er in Überforderung verlieren konnte, mischte sich eine selbstsichere weibliche Stimme in seine Gedankenwelt.

»Brauchst du Hilfe?«

Merlin zuckte zusammen. Ein Schatten erstreckte sich über ihm. »Wie meinen?«

Ein schiefes Grinsen schob sich in sein Blickfeld. Dazu gehörten zwei blaue Augen, die besorgt auf seine Hand gerichtet waren. »Das sieht übel aus.« Die Oberlippe des blauäugigen Mädchens zuckte mitfühlend. »Ich bringe dich am besten zum Lehrerzimmer.«

Der Junge atmete konzentriert, während er das rundliche Gesicht seines Gegenübers betrachtete. Das Mädchen war in seinem Alter, hatte ziemlich lange Haare und trug nicht zu übersehende, schrille Kleidung. Eine einzige Strähne ihrer sonst hellbraunen Haare schimmerte im Sonnenlicht dunkelblau. Ihre Erscheinung hatte einen ebenso abschreckenden wie auch faszinierenden Effekt auf ihn.

»Sofern du das wirklich ernst meinst«, entgegnete er gehoben. »Wäre ich dir für diese Unterstützung sehr dankbar.«

Der nächste Moment war erfüllt von Stille. Das Mädchen zog die Augenbrauen zusammen und schien angestrengt seine Gedanken zu sortieren. Bevor das Schweigen unangenehm werden konnte, brachte es ein Räuspern hervor. »Gut, also du redest strange.« Weil es sich selbst auf die Unterlippe biss, blitzten die Zähne des Mädchens kurzzeitig hervor. »Mein Name ist Lorraine.«

»Merlin«, antwortete er knapp und raffte sich vom Boden auf. Er betrachtete die Scherben und verzog schuldbewusst das Gesicht. »Ich sollte das hier noch wegräumen. Es war ein Missgeschick von mir, diese Flasche-«

»Dein Ernst?« Lorraine fiel ihm prustend ins Wort: »Lass liegen. Wozu gibt es hier Hausmeister?« Mit jedem ihrer Worte bewegte sie ihre Hände ausschweifend zwischen sich und Merlin auf und ab. Dabei musste er an einen Dirigenten denken. Sein Kopfkino vereinnahmte ihn bald so sehr, dass er ihren Worten nicht mehr folgen konnte. Lorraine redete weiterhin auf ihn ein und erst, als sie damit aufhörte, bemerkte Merlin, dass sie ihm eine Frage gestellt hatte. Ihre Augen starrten in seine und ihr Mund war zu einem erwartungsvollen Grinsen verzogen.

»Entschuldige bitte. Ich befürchte, dass ich dir nicht folgen konnte.«

Sie atmete leise ein und schloss beim Ausatmen ihre Augen. »Ist auch egal. Ich bringe dich und deine verblutende Hand erstmal zu einem Lehrer.«

Während Merlin ihr schweigend in das Schulgebäude folgte, hing er gedanklich den Scherben nach. Er hätte sie nicht einfach liegen lassen dürfen. Später würde er sie zusammenkehren. Dann würde er zwar länger in der Schule bleiben, aber das machte ihm nichts aus. Er wollte an seinen ersten Tagen nicht unangenehm auffallen.

Lorraine erzählte ihm auf dem Weg zum Lehrerzimmer alles Mögliche, was ihr über die Schule einfiel. Dabei erklärte sie sich zu seiner persönlichen Patin. Merlin lauschte ihren Worten und fragte sich, ob es eine gute Idee war, ihr persönlicher Schützling zu werden. Die beiden konnten unterschiedlicher kaum sein.
Sie, mit ihrer aufbrausenden Stimme, der farbenfrohen Kleidung und dem intensiven Geruch nach einem fruchtigen Parfum.
Und er selbst, als eine Verkörperung verschiedener Schwarztöne, der sich in Schweigen hüllte und hoffte, dass Deo den Schweißgeruch in Schach halten konnte.
Er umklammerte das Handgelenk seiner verletzten Hand und schlurfte vertrauensselig hinter Lorraine her. Sie war die erste Person an dieser Schule, die nett mit ihm umging. Eigentlich war sie sogar die Erste, die überhaupt mit ihm redete. Ihre Haare wehten vom Wind ihrer eiligen Schritte und trugen den Duft ihres fruchtigen Shampoos hinter sich her. Damit verdrängte sie den Mief der alten Schulflure. Er atmete durch die Nase ein und lächelte heimlich. Vielleicht konnte er sich mit ihr anfreunden, dann wäre der Schulstart angenehmer. »Lorraine?«, fragte er und wartete ab, bis sie sich zu ihm umdrehte.

»Hm?«

Er zögerte und wich ihrem Blick aus. »Danke, dass du mir hilfst.« Sein Herz rutschte ihm in die Hose. Zwischenmenschliche Interaktionen überforderten ihn. Jedes Wort fühlte sich falsch an und er schämte sich dafür, dass er überhaupt etwas gesagt hatte. »Du bist echt nett, oder?«

Sie lachte. »Das hoffe ich doch.«

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