Kapitel 20: Erwachen

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(POV Merlin)

Als Merlin wieder zu sich kam, lag er umgeben von Schutt in der Ruine der einstigen Kinderklinik. Eine unheimliche Ruhe umwaberte ihn, während feine Sonnenstrahlen durch die eingebrochene Decke auf ihn hinabschienen. Er starrte teilnahmslos nach oben, seine Gedanken waren leer. Sein Körper schmerzte und er konnte nicht bestimmen, welche Stelle am schlimmsten betroffen war. Er traute sich nicht, sich zu bewegen, weil er nicht wissen wollte, was der Sturz aus ihm gemacht hatte. Genaugenommen hatte er sogar Angst davor, festzustellen, dass er sich gar nicht mehr bewegen konnte. Was, wenn er eine schwerwiegende Verletzung an seiner Wirbelsäule hatte? Tränen tropften in seine Ohren. In diesem Augenblick hasste er seine eigene Existenz. Wie hatte er nur zulassen können, dass all das mit ihm geschah?

Vorsichtig setzte er seine Arme in Bewegung. Seine Atmung stockte. Beide ließen sich bewegen. Erleichterung rauschte durch seine Brust. Mit seinen Händen, die sich taub anfühlten, tastete er über seinen restlichen Körper. Seine Kleidung war staubig und er war mit Schutt bedeckt. Als er die Stelle seines Körpers berührte, die sich direkt neben seinem Bauchnabel befand, zischte er gequält auf. Die Brandwunde schmerzte. Merlins Unterkiefer bebte. Er schluckte immer wieder und belastete sich mit selbstzerstörerischen Gedankengängen. Wie erbärmlich er dalag und weinte. Irgendwann stemmte er seinen Oberkörper hoch und winkelte die Knie an. Sein Körper war also nicht gelähmt, aber als er seine Knie sah, schüttelte er niedergeschlagen den Kopf. Sie waren beide aufgeschlagen, seine Hose war kaputt und eingetrocknetes Blut zeichnete sich auf den Fetzen der dunkelgrauen Jeans ab.

Offensichtlich war er alleine in der ehemaligen Kinderklinik zurückgeblieben. Die anderen hatten nicht nach ihm gesehen und, so wie es aussah, niemandem gemeldet, was vorgefallen war. Er hätte genau so gut tot sein können. Dass sich darum niemand zu scheren schien, zerstörte den letzten Funken der Zuversicht in seiner Gedankenwelt. Seinen Mitschülern war es egal, ob er lebte oder nicht. Das Schlimmste war jedoch, dass er Lorraine für eine Freundin gehalten und sich damit offensichtlich geirrt hatte.

Ächzend stemmte er sich aus den Resten des zusammengekrachten Daches, um diesen unheilvollen Ort hinter sich zu lassen. Er schleppte sich durch die Ruine und verfluchte wiederholend, dass er den Sturz überlebt hatte. Seine Knie schmerzten, sodass er seine Beine nur mühselig vorwärts bewegen konnte. Außerdem brannte sein Bauch und er konnte nur gekrümmt laufen. Mit seinen Händen stützte er sich immer wieder an Schränken, Wänden oder Türrahmen ab. Als er ein Treppenhaus erreichte, schleppte er sich drei Etagen nach unten, so fand er immerhin heraus, dass er zwei Etagen heruntergestürzt war. Die Dachpappe und der Schutt müssen seinen Fall abgefedert haben. Vor dem Krankenhaus führte ihn sein Weg durch den kleinen Wald, den er noch vom Vorabend kannte. Dort stützte er sich von Baum zu Baum, bis er die stillgelegten Bahngleise erreichte. Ob sich sein Vater Sorgen um ihn machte? Merlin war noch nie über Nacht weg gewesen.

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Er brauchte gefühlte Stunden, bis er endlich sein Zuhause erreichte. Im Wohnzimmer saß Lucius zusammengesackt auf dem Sessel und schlief. In Anziehsachen? Merlin sah an sich herunter. Mit den schmutzigen Klamotten wollte er seinem Vater lieber nicht unter die Augen treten. Er beschloss, sich zu waschen und umzuziehen, ehe er ihn weckte.

Im Badezimmer verbrachte er unzählige Minuten vor dem Spiegel. Er stierte angewidert auf die Brandwunde. Sie war größer als befürchtet und stellte ein umgedrehtes Pentagramm dar. Die Haut drumherum war stark gerötet und die Wunde nässte. Als er sie mit der Fingerkuppe berührte, zogen schmerzende Wellen durch seinen Körper. Auf seiner Hose zeichneten sich überall Löcher und Risse ab. Er schob sie von seinen Beinen und zögerte, bevor er sich der Unterhose widmete. »Zeig uns deine Zwittermuschi«, hallte Jans Stimme in seiner Erinnerung nach. Merlin kniff die Lider zusammen, während er die Unterhose runter schob. Als er die Augen öffnete, stieß er ein schmerzliches Seufzen aus. Sein Körper sah aus wie immer, abgesehen von der Brandwunde. Er war blass, neigte dazu, zu dünn zu sein, sodass sich seine Rippen beinahe abzählen ließen. Seine schwarzen Haare stachen dagegen deutlich hervor, obwohl er am Körper nicht viele davon besaß. Sie sprossen vereinzelt an seinen Armen und Beinen und unterhalb seines Bauchnabels. Für einen Moment sah er das Spiegelbild seiner unteren Körperhälfte an. Alles wie immer. Wenn man ihn von vorne betrachtete, dann sah Merlin wie ein ganz normaler Junge aus. Er hatte einen Penis, wie jeder von ihnen. Nur wenn man genauer hinsah, gab es dahinter eine Auffälligkeit, welche sein Arzt schon vor Jahren hatte entfernen wollen. Vielleicht sollte er dieser Empfehlung eines Tages nachgehen? Wenn ihn dieser Eingriff normaler machen würde und er traumatische Übergriffe nie wieder erfahren musste, war es die Sache vielleicht wert. Um den niederschmetternden Gedanken zu entgehen, stellte er sich unter die Dusche.

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