Kapitel 10: Bio

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(POV Merlin)

Frau Pendragon war die einzige Lehrerin, die bunte Kreide benutzte und damit atemberaubende Tafelbilder zauberte. Sie verwendete manchmal Memes in Powerpointpräsentationen und zeigte Videos, anstatt zu unterrichten. Meistens waren ihre Schüler dazu angehalten, selbst kreativ zu werden und eigene Werke vorzustellen. Die Frau bewegte sich ungebremst auf die Rente zu und investierte all ihre junggebliebene Energie in das Motivieren ihrer Schüler. Dass sie alt war, konnte man an ihren naturgrauen Locken erkennen und den tiefen Falten, die sich beinahe malerisch durch die Lächelzonen ihres Gesichtes schlängelten.

Merlin saß ohne Sitznachbar in ihrem Unterricht. Er sah sich suchend im Raum um. Die anderen Schüler waren da, aber von Lorraine fehlte jede Spur. Er hatte auf sie gewartet, aber sie war nicht am vereinbarten Ort aufgetaucht. Dort, wo sie sich jeden Morgen trafen, um gemeinsam zur Schule zu laufen.

Während Frau Pendragon ein Tafelbild von einem Schaf anfertigte, lugte er heimlich auf sein Smartphone. Seine Freundin hatte ihm keine Nachricht geschrieben. Ob ihr etwas zugestoßen war? Ob sie ... ihm aus dem Weg ging? Die Erinnerung an den Vortag fühlte sich verblasst an. Als hätte sein Gehirn einen Radiergummi aktiviert, der Geschehenes auslöschen sollte. Er hätte sich Lorraine nicht anvertrauen dürfen.

»Dolly war das erste geklonte Säugetier«, erklärte die Lehrerin mit schwungvoller Stimme. »Hat jemand von euch schon einmal etwas davon gehört?«

Einzelne Hände schnellten in die Luft.

Merlin überlegte, ob er einen sinnvollen Beitrag liefern konnte. Er hatte sich eine Zeit lang mit dem Thema befasst. Klonierung von Menschen war verboten, das wusste er. Aber wie die genaue Geschichte des Schafes war, konnte er nicht wiedergeben. Es hat nicht lange gelebt. Er warf einen Blick auf sein Handy. Keine Nachricht von Lorraine.

»Die Methode, mit der Dolly erschaffen wurde, nennt sich reproduktives Klonen.«, trug Ines, eine sonst schweigsame Mitschülerin, zum Thema bei. »Dabei wird ein Embryo über eine Leihmutter ausgetragen. Es ist umstritten, ob sich diese Methode jemals auf den Menschen übertragen lässt.«

»Sehr gut, Ines«, lobte Frau Pendragon. »Tatsächlich wäre es theoretisch möglich, ein Abbild eines Menschen durch das Klonieren zu erschaffen. Aber das ist verboten und birgt Risiken. So steht die Frage im Raum, ob ein Baby, das aus den Zellen eines erwachsenen Menschen geklont wurde, zu Beginn seines Lebens bereits mit einem erwachsenen Gensatz ausgestattet wäre. Es würde vielleicht anders aufwachsen, weil die Zellen bereits eine Pubertät hinter sich hatten. Das Schaf Dolly hatte in jungen Jahren bereits Arthritis, was darauf zurückzuführen ist, dass seine Zellen früh zu altern begonnen haben.«

Merlin steckte sein Handy in seinen Rucksack, als sich auch beim dritten Nachsehen keine Meldung von Lorraine darauf befand. Sie war vielleicht krank und saß gerade beim Arzt. Oder sie ging ihm aus dem Weg. Er senkte die Schultern. Er hätte es ihr nicht sagen dürfen.

»Frau Pendragon?«

Chesters schneidende, fast schon herausfordernde Stimme, ließ Merlin aufschrecken. Er meldete sich niemals im Unterricht. Seine Stimme so laut zu hören, war ungewöhnlich. Normalerweise beteiligte er sich am Geschehen nur, wenn es eine laufende Diskussion gab. Dann trug er schlüssige Argumente bei. Chester war kein dummer Schüler, er wusste genau, wann es sinnvoll war, etwas zu sagen und wann er anderen den Vortritt lassen konnte. Er hatte ganz bestimmt gute Noten.

»Ich weiß, meine Frage passt nicht ganz zum Thema, aber ich habe gestern etwas im Internet gelesen, was mich neugierig gemacht hat.«

»Nur zu, vielleicht ist deine Frage für die anderen auch interessant.« Frau Pendragon ließ die Tafel hinter sich und trat näher auf die Schüler zu.

Chester atmete durch. Ein knapper Seitenblick zuckte in Merlins Richtung. Dann bildete sich die Ahnung eines Grinsens in seinem Mundwinkel. »Ich habe gelesen, dass es mehr als zwei Geschlechter gibt. Angeblich soll es noch eine Kombination aus beidem geben. Lebewesen, die zugleich männlich und weiblich sind. Ist das wirklich möglich?«

Merlins Gesicht wurde heiß. Er rutschte tiefer in seinen Stuhl und wich dem zweiten Blick aus, den Chester ihm widmete. Am liebsten wäre er unter seinen Tisch gekrabbelt und nie wieder herausgekommen. Chester wusste es. Lorraine hatte es ihm gesagt. Natürlich. Sie waren Zwillinge. Sie redeten über alles. Das war der Super-GAU. Chester wusste es. Er wusste Bescheid.

»Oh, also ...« Frau Pendragon nahm ihre Brille ab, um sie mit dem Saum ihrer Bluse zu polieren. Mit angestrengt verzogenem Gesicht wirkten ihre Falten tiefer. »Das ist nur bedingt von unserem Thema abwegig. Die Bildung eines Embryos hatten wir vor wenigen Wochen, als es um die Genetik ging. Es gibt in der Tat Menschen, die mit beiden Geschlechtsmerkmalen ausgestattet sind. Früher nannte man sie Hermaphroditen. Heute ist der Begriff Intersexuelle zutreffender. Es gibt Kulturen, in denen solche Menschen als Gottheiten verehrt werden.«

»Würde man das jemandem ansehen, wenn er sowas ist?«

Die Betonung von sowas ließ einen Schauer über Merlins Rücken rieseln.

Chesters Stimme triefte vor Gehässigkeit. Er genoss diesen Moment. Er kostete die Schwingungen aus, die von Merlin ausgingen, und labte sich an seiner Scham. »Wenn man beides hat, sieht man doch bestimmt auch aus wie eine Mischung aus beidem, oder?«

»Nein, nein«, widersprach die Lehrerin und platzierte die Brille auf ihrer Nase. »Ich bin noch niemandem begegnet, der intersexuell ist. Zumindest nicht, dass ich es wüsste. Aber ich weiß, dass es verschiedene Ausprägungen gibt. Es gibt Menschen, die sind prozentual mehr männlich ausgestattet und solche, die besitzen nur einen minimalen Anteil des anderen Geschlechts. Dementsprechend fällt die äußere Erscheinung von betroffenen Person unterschiedlich aus.«

»Hm«, machte Chester und fuhr sich mit der Hand durch das Haar. »Nur so als Beispiel«, er deutete in Merlins Richtung. »Merlin ist ein Junge, aber sein Gesicht sieht ein bisschen weiblich aus. Kann ich mir das so in etwa vorstellen?«

Frau Pendragon musterte Merlin nachdenklich. »Nun, das ist ein ungewöhnliches Beispiel, aber so in etwa könnte es sein. Es könnte auf jeden von euch zutreffen. Manchmal wird Intersexualität erst in späten Lebensjahren entdeckt, weil sich lediglich im Chromosomensatz zeigt, dass beide Geschlechter in einem Körper vertreten sind. Man kann körperlich eine Frau sein und in der Pubertät mit plötzlichem Bartwuchs überrascht werden. Dann besteht die Möglichkeit, dass man auch männlich ausgeprägte Gene in sich trägt, die man bislang nicht bemerkt hat.«

Die Stunde fühlte sich an, als würde sie mit einem Einmachgummi festgehalten. Sie zog sich endlos lang und brachte die unangenehme Stimmung beinahe zum Überkochen. Merlin rutschte immer weiter in seinem Stuhl zusammen und betete, hoffte und flehte, dass irgendjemand das Thema wechselte. Dass Chester ihn wiederholend ansah, fühlte sich wie eiskalte Messerstiche an, die ihn immer wieder an einer anderen Stelle verletzten. Lorraine hatte es ihrem Bruder erzählt. Sonst wäre er nicht darauf gekommen, das Thema anzusprechen. Und mit seinem neuerlangten Wissen würde er Merlin das Leben zur Hölle machen. Immer wieder ertönte Getuschel, dann Gekicher. Andere Schüler sahen in seine Richtung. Bildete er sich das ein? Wussten alle Bescheid? Und sie machten sich alle lustig über ihn. Verhöhnten seine Existenz. Sie starrten in seine Seele. Zogen ihn mit ihren Blicken aus und fragten sich, was er zu verbergen hatte. Merlins Herz schlug ihm gegen die Kehle. Seine Ohren rauschten. Er wischte seine Hände an der Hose ab und starrte auf die Tischplatte. Dass er immer wieder angesehen wurde, spürte er trotzdem. Seine Nackenhaare stellten sich auf und er entließ ein erleichtertes Stöhnen, als endlich die Schulglocke schrillte, um den Unterricht zu beenden. So schnell wie an diesem Tag hat er den Klassenraum noch nie verlassen.

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Hier klinke ich mich kurz ein, um mich kurz dafür zu bedanken, dass Du meine Geschichte liest. :) Die ersten 10 Kapitel sind also schon online. Wahnsinn.
In letzter Zeit habe ich viel an anderen Projekten gearbeitet, weshalb es bei diesem hier ruhiger zuging. Ich plane ab jetzt wieder regelmäßiger daran zu arbeiten.
Wenn Du Anmerkungen, Verbesserungsvorschläge oder Ideen hast, dann teile sie gerne mit, ich bin jederzeit lernbereit und froh über regen Austausch. :)

Liebe Grüße, Megan

UnmelodieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt