Ian und Olivia sind schneller als wir und bereits kichernd im Inneren verschwunden, doch River steht noch starr auf der Stelle und schaut misstrauisch auf die Fassade.
Ich stelle mich neben sie und sage: "Wir können noch eine Weile draußen bleiben. Sag einfach, wenn du bereit bist."
Es ist still.
In der Ferne kann ich Äste knacken hören.
Vermutlich ein Reh.
Dann atmet sie einmal tief ein und setzt sich in Bewegung.
Die Kartons und Koffer lassen wir vorerst auf der Veranda stehen und begeben uns dann ebenfalls in das Innere des Hauses. Da River sich nicht auskennt, gehe ich voraus und versuche herauszufinden, woher das Stimmengewirr herkommt.
Als ich das Wohnzimmer betrete, sind alle damit beschäftigt Ian und Olivia willkommen zu heißen.
River drängt sich an mir vorbei, wirft einen kurzen Blick auf die Menge und schaut dann zu mir hoch.
Nervös verzieht sie das Gesicht und versteckt ihre Hände hinter dem Rücken, also lege ich ihr einen Arm um die Schulter, ignoriere das Prickeln unter meiner Haut, das sich bei unserem Körperkontakt ausbreitet und gehe gemeinsam mit ihr auf die anderen zu.
Als erstes bemerkt uns Clayton. Sein Blick gleitet von River zu mir und auf seinem Gesicht breitet sich ein Grinsen aus. Die Freude meines Freundes erfüllt mich mit Stolz und Wärme.
“Hallo, du musst River sein. Ich bin Clayton.“ Er lächelt die junge Frau neben mir herzlich an und reicht ihr zur Begrüßung die Hand.
Ohne zu zögern ergreift sie seine Hand und bringt ein schüchternes “Hi“ hervor. Doch anstatt ihre Hand wieder frei zu geben, zieht er sie an seine Seite, legt einen Arm um ihre Schultern und dirigiert sie weiter in den Raum hinein. Bei jedem anderen, hätte ich wahrscheinlich nicht so gelassen reagiert, doch hier bin ich zu Hause. Ich kenne und vertraue jeden einzelnen.
“So, Jungs. Das ist River. River, das sind Antonio, Mato, Noah, Jesper und Len.“ Der Reihe nach zeigt Clayton auf die Jungs, doch ich bezweifle, dass sich River auch nur einen Namen gemerkt hat.
Die fünf lächeln ihr warm entgegen und begrüßen sie durcheinander mit einem einfachen “Hallo“ und auch hier erwidert sie mit einem schüchternen “Hi“.
“Habt ihr Hunger? Ich habe euch einen Auflauf gemacht“, meldet sich Jesper zu Wort, um die entstandene Stille zu durchbrechen.
“Ich dachte schon du fragst nie“, antwortet Ian und zieht Olivia an der Hand mit sich in die Küche. Auch die anderen folgen ihnen, bis nur noch River und ich übrig bleiben.
“War doch gar nicht so schlimm, oder?“
Ein Blick auf River verrät mir, dass sie nicht mehr ganz so nervös und angespannt ist. Ihre Schultern hängen wieder mehr und auch ihre Atmung hat sich normalisiert.
“Ja, ich habe es mir schlimmer vorgestellt. Nur was die Namen betrifft, musst du mir noch einmal auf die Sprünge helfen“, gesteht sie und lächelt doch tatsächlich.

Während wir gemeinsam am Tisch sitzen und Jespers Auflauf verspeisen, berichten Ian und Olivia heiter von unseren vergangenen Tagen. Auch die Jungs klären uns über ihre Ereignisse auf.
River scheint diese ungezwungene Unterhaltung gut zu tun. Sie meldet sich zwar nicht oft zu Wort, doch entspannt sich von Minuten zu Minute mehr.
“Wir brauchen definitiv einen größeren Tisch“, bemerkt Mato.
Da hat er nicht ganz Unrecht. Wir sind jetzt zehn Personen und wenn dieses Rudel sich in den nächsten Jahren weiter vergrößert, wird es keinen Platz mehr an dem Tisch geben.
“Wir können morgen mal nach einem geeigneten Baum schauen, den wir in unseren neuen Tisch umwandeln können“, schlägt Clayton vor.
Weiter höre ich den Gesprächen nicht mehr zu. Meine Aufmerksamkeit liegt wie eigentlich immer auf River und ich gehe meiner Lieblingsbeschäftigung nach, sie zu beobachten. Sie hat sich ihre langen Haare für das Essen zu einem losen Zopf im Nacken zusammen gebunden und folgt dem regen Gesprächswechsel.
Ich habe keinen Zweifel daran, dass sie sich hier gut einleben wird. Auch wenn sie jetzt noch etwas zurückhaltend ist, weiß ich, wie tough sie sein kann. In ein paar Tagen hat sie alle um den kleinen Finger gewickelt und wird mich wahrscheinlich wieder mit bösen Blicken strafen, wenn ich irgendetwas mache, dass sie nervt.
Irgendwie vermisse ich diese Blicke. Im Auto war ich sogar gewillt etwas dummes anzustellen, nur um diesen Blick in ihrem Gesicht hervorzurufen, habe es dann aber als unpassend empfunden.

Als sie versucht ein Gähnen zu unterdrücken, fällt mir auf, dass es schon sehr spät ist. Bereits die Nacht davor wahr sehr kurz.
"Komm mit", flüster ich ihr ins Ohr, um uns unbemerkt aus der Gruppe zu entfernen.
Ich kann ihren misstrauischen Blick auf meinem Rücken spüren, doch sie folgt mir dennoch.
Während wir uns auf den Weg zu dem oberen Stockwerk begeben, in dem jeder von uns sein Schlafzimmer hat, gebe ich River bereits eine kleine Tour durch unser Haus.
"Also, Wohnzimmer und Küche kennst du bereits. Hier ist unser Konferenzraum und gegenüber ein Badezimmer." Ich weise auf die beiden geschlossenen Türen und werfe einen kurzen Blick über die Schulter, um zu schauen, ob River mit mir Schritt halten kann.
"Hier befindet sich unsere Waffenkammer", ergänze ich und klopfe gegen die Eisentür.
"Waffenkammer?", fragt River überrascht nach und in ihren blauen Augen, deren Pupillen ganz groß geworden sind, kann ich Furcht erkennen.
"Keine Sorge, das sind nur Vorsichtsmaßnahmen. Bisher mussten wir von hier drinnen noch nichts benutzen", erkläre ich schnell, um sie nicht weiter zu beunruhigen.
Mit einem stummen Nicken und einem Ausdruck auf ihrem Gesicht, der mir zeigt, dass sie mir nicht ganz zu glauben scheint, folgt sie mir weiter.
"Die Tür unter der Treppe führt in den Keller und oben befinden sich die Schlafzimmer. Komm mit ich zeige dir deines."
"Meins?", fragt sie überrascht nach, doch ich antworte nur mit einem zustimmenden Grinsen.
Wir passieren die ersten Türen und am Ende des Ganges bleiben wir stehen. Es ist ein schmaler dunkler Gang ohne Fenster, der nur schwach beleuchtet ist. Die Wände sind wie der Fußboden und die Decke mit Holz verkleidet. Am Ende des Flures befindet sich mein Zimmer und daneben Rivers.
Die Tür ist nur angelehnt, deshalb drücke ich sie leicht auf und mache das Licht an. Clayton und die Jungs haben gute Arbeit geleistet. Ich habe ihnen beschrieben, was River mag und wie ihr altes Zimmer aussieht.
"Wow!", bringt sie ehrlich erstaunt hervor und schaut sich mit vor Überraschung geweiteten Augen in dem Zimmer um. Von der Müdigkeit ist nun nichts mehr zu erkennen.
"Ich verstehe, dass du deinen Rückzugsort brauchst und es eine Weile dauern wird, bis du dich mit dieser neuen Situation anfreunden kannst. Dass du nicht in meinem Bett schlafen möchtest, war glaube ich offensichtlich. Also habe ich die Jungs damit beauftragt, dir dein eigenes kleines Reich einzurichten. Mein Zimmer ist übrigens nebenan", erkläre ich und verweise auf die Tür schräg hinter mir.
Eben hat River noch aus dem Fenster geschaut, es ist kein bodentiefes, wie in ihrem alten Zimmer, doch vielleicht können wir das auch noch umbauen. Jetzt schaut sie mich mit strahlenden Augen an, die auch etwas Wehmut in sich tragen. "Danke", flüstert sie aufrichtig, weil ihr die Stimme versagt. Sie ist tatsächlich überrascht und ausnahmsweise in einem positiven Sinne. "Danke, Nikan", wiederholt sie erneut und ich glaube mich erst verhört zu haben, doch sie hat meinen Namen tatsächlich ausgesprochen. Sie hat meinen Namen gesagt und wie wunderschön es klang. Wäre die Situation anders, würde ich sie bitten es noch einmal zu tun, denn sie spricht ihn nicht oft aus, doch hier und jetzt würde es nur den Moment ruinieren.
Stolz erfüllt meine Brust, weil ich River glücklich machen konnte, weil ich meine Gefährtin glücklich machen konnte. Ich würde mich so gerne in diesem Glück suhlen und noch mehr verlangen, doch mein Verstand weißt mich darauf hin, dass es vorerst genug ist.
"Ich hole dir schnell deinen Koffer und deine Bücher, dann lasse ich dich allein. Wir können morgen alles weitere erkunden. Gegenüber findest du übrigens ein kleines Badezimmer", informiere ich sie und wende mich bereits zum Gehen ab, bis mich ihre Stimme aufhält.
"Danke, Nikan. Ich weiß, dass du mehr erwartest. Aber du kannst dir gar nicht vorstellen, wie viel mir das bedeutet."
"Wir gehen einen Schritt nach dem anderen", versichere ich ihr, lächle noch einmal zustimmend und verlasse dann den Raum.

MoonshadowWhere stories live. Discover now