32 | Nikan

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River brauchte etwas Ruhe nach dem doch sehr ereignisreichen Morgen. Wir sind die Mittagszeit über vier Pfoten durch den Wald spaziert, haben bei der Grenzpatrouille ausgeholfen und den ein oder anderen verstohlenen Kuss ausgetauscht. Anschließend hat ihr Mato das Quadfahren beigebracht. Jetzt bereitet sie mit Olivia und Atlas eine Feuerstelle für heute Abend vor. Es ist schön, dass sie ihn ein wenig mit einbindet, obwohl es heute ihr Tag ist. Außerdem hilft es dem Jungen. Ich glaube das ist auch ihre Absicht. Sie weiß, dass es ihm nicht gut geht und versucht ihn aufzuheitern. Ihre Instinkte scheinen hier zu übernehmen. Ob sie es wohl selbst bemerkt? Als Gefährtin eines Alphas möchte sie, dass es allen im Rudel gut geht, selbst wenn es sich dabei um einen Gefangenen handelt.

Dean und Luke helfen mir dabei den großen Tisch und Stühle aus der Küche zu tragen. Wir werden heute draußen essen. Jesper steht deshalb schon den halben Tag in der Küche. Als River ihm ihre Hilfe angeboten hat, hat er sie sofort verjagt. Ian steht währenddessen auf der Leiter und befestigt gemeinsam mit Noah eine Lichterkette an den Bäumen, die den Platz vor dem Haus am Abend hoffentlich schön ausleuchtet. Zusätzlich werden wir noch das Lagerfeuer und einige Kerzen haben. Es wird ein schönes Fest werden. Eines, das River verdient hat. Ich glaube, wenn sie uns nicht gesagt hätte, dass sie diesen Rummel um sich selbst gar nicht mag, wäre ihre Party deutlich opulenter ausgefallen. Sie hätte vermutlich noch mehr Geschenke erhalten und wir hätten Leute einladen können. Aber dann ist da noch die Sache mit Henry. Es kommt also ganz gelegen, dass wir nur mit der Familie feiern. Den ganzen Tag über klingelt schon ihr Handy. Ihre Schwester und Freunde aus dem Redbone Rudel rufen an, um ihr zu gratulieren. Sie sieht glücklich aus. Wahrscheinlich habe ich sie noch nie so lange an einem Stück lächeln gesehen und sie hat es wirklich verdient. Alles. Sie hatte genug traurige Momente in ihrem Leben. Von nun an soll sie nur noch glücklich sein. Das wird meine Aufgabe bis zum Ende sein.

"Vielleicht war es vorherbestimmt." Dean stellt bunte Gläser mit Teelichter auf den Tisch und schaut mich dann an.
"Was meinst du?", frage ich nach, weil er es offensichtlich nicht für nötig hält seinen Gedankengang näher auszuführen.
"Dass du bei uns gelandet bist. Dass River bei uns gelandet ist." Er positioniert eine Stuhl richtig, der ihm wahrscheinlich nicht gerade genug stand. "Es ist schon ein großer Zufall, dass ihr beide in unserem Rudel Zuflucht gefunden habt."
"Wir glauben nicht an Zufälle", erinnere ich ihn und er grinst mich an.
"Nur an das Schicksal", ergänzt River, die sich von hinten an mich angeschlichen hat und nun ihren Arm um meine Taille schlingt.
"Genau." Deans Grinsen wird breiter. Seine braungrünen Augen wandern abwechselnd zwischen River und mir hin und her. "Ich hätte nie gedacht, dass einer von euch beiden seinen Gefährten finden. Anscheinend passt ihr deshalb so gut zueinander", scherzt er und River zieht eine Grimasse, um ihm anschließend die Zunge rauszustrecken.
"Musst du nicht freundlich zu mir sein? Es ist mein Geburtstag."
"Ich hab dir ein Buch geschenkt", antwortet Dean, als wäre das Erklärung genug. Aber ich mische mich da nicht weiter ein. Es sind ihre Rauferein. Nichts ernstes.

Es dauert nicht lange und Jesper hat das Essen fertig zubereitet. Verschieden Salate, Obst-, Käse-, Fleischplatten und Brotkörbe finden auf dem Tisch ihren Platz.
Der Duft des Essens lockt schnell die anderen an den Tisch und wir beginnen gemeinsam zu essen. Atlas ist ebenfalls anwesend.
Olivia und Ian haben vorhin ein altes Radio aufgestellt und einen Jazzsender eingestellt, der uns im Hintergrund mit sanften Klängen begleitet.
"Du, River?"
Sie schaut bei Claytons Worten auf und wartet darauf, dass er seine Frage fortführt.
"Mich würde gerne interessieren, was dein erster Eindruck von Nikan war, als du ihm das erste Mal begegnet bist?" Seine blauen Augen finden meine und er schaut mich amüsiert an.
"Ich habe dir schon erzählt, wie unsere erste Begegnung abgelaufen ist", erkläre ich an Rivers Stelle und schaue meinen besten Freund mit zusammengekniffenen Augen entgegen.
Von Olivia höre ich ein leises Kichern. Sie war schließlich anwesend und kennt die Geschichte bereits.
River neben mir rutscht auf ihrem Stuhl hin und her und ich fange ihren Blick ein. Sie sieht mich entschuldigend an, doch lächelt dann und ihre Augen beginnen zu funkeln. Sie springt auf Claytons Stichelei an. Dieses Biest.
"Ich bin davongelaufen", entgegnet sie mit einem Achselzucken und schiebt sich ein Stück Gurke in den Mund. Sie tut so als wäre es eine normale Reaktion gewesen. 
Die anderen am Tisch beginnen zu Kichern und ich zwicke River in den Oberschenkel, doch sie lässt sich nichts anmerken.
"Aber nur weil sie von unserer herausragenden Verbindung überrascht wurde", erkläre ich und spüre Rivers Hand nun auf meinem Oberschenkel, die beruhigend auf und ab streicht.
"Das war es bestimmt", bemerkt Noah neunmalklug und duckt sich im nächsten Moment, weil ich mit einer Tomate nach ihm geworfen habe, die er nach einigen Versuchen, in denen er sie in der Luft jongliert, in die Hand bekommt und sich mit einem breiten Grinsen in den Mund steckt.
"Nikan, hat mich letzten Endes von seiner herausragenden Persönlichkeit überzeugt und das ist es doch worauf es ankommt." Ihre eisblauen Augen landen auf mir. Sie lächelt mir warm entgegen und legt ihre Finger um mein Kinn, um mich zu sich zu ziehen und zu küssen.
Ich muss lächeln und möchte ihr selbst eine Hand an den Hinterkopf legen, um diesen Kuss zu vertiefen, doch sie löst sich bereits von mir. Da ich aber noch nicht bereit bin unsere Verbindung zu trennen, ziehe ich sie auf meine Schoß und sie schnappt überrascht nach Luft. Die anderen haben sich bereits anderen Gesprächsthemen gewidmet und bekommen von Rivers Platzwechsel gar nichts mit.
"Wie soll ich jetzt essen?"
Mein rechter Arm liegt um ihre Mitte, doch mit dem linken kann ich noch meinen Teller erreichen, nehme ein Stück Käse zischen die Finger und halte es ihr vor den Mund.
Sie schüttelt erst lächelnd den Kopf, doch lässt sich dann von mir füttern und als ihre Lippen meine Finger berühren, sendet es Schockwellen durch meinen Körper und Gedanken bilden sich, was sie alles noch mit diesen Lippen anstellen könnte. Ich atme steif aus und weil sie die Veränderungen in mir mitbekommen haben muss, legt sie ihre Hand in meinen Nacken und beginnt ihn zu massieren.
Für eine Weile verharren wir in dieser Position. Abwechselnd führe ich die Gabel an ihren und meinen Mund und hören den anderen bei ihren Gesprächen zu.

Als es dunkeln wird, räumen wir alles wieder ins Haus und entzünden das Lagerfeuer, um uns auf Baumstämmen in einem Kreis herumzusetzen.
"Wie bist du eigentlich im Redbone Rudel gelandet?", möchte River wissen, die mit einer Bierflasche in der Hand wieder auf meinem Schoß Platz genommen hat.
Ich seufze auf und versuche meine Beine etwas auszustrecken, immer darauf bedacht, dass sie nicht von meinem Schoß fällt.
"Ich war schon einige Monate als einsamer Wolf unterwegs. Die meiste Zeit davon habe ich im Wald unter den Bäumen verbracht. Selten und nur wenn es wirklich sein musste, habe ich mich als Mensch gezeigt. Aber im Wald hatte ich alles. Meine Ruhe, Essen und einen Platz zum schlafen."
Ich denke an die Zeit zurück als ich mehr Tier als Mensch war und merke wie zwiespältig mich diese Gedanken werden lassen. Es wäre gelogen, wenn ich behaupten würde, dass mich diese Einsamkeit gestört hätte. Nach Jahren in einem Rudel voller Probleme, in dem ich ständig angeeckt bin und Streit gesucht habe, war es schön einsam zu sein. Aber jetzt mit River in meinen Armen erscheint mir diese Zeit doch nicht mehr so willkommen.
"Es war einer dieser Momente in denen ich mich als Mensch unter andere Leute getraut hatte. Ich dachte ich wäre weit genug vom Redbone Gebiet weg, doch Luke hat mich trotzdem gefunden."
"Und weil das Redbone Rudel schon immer Streuner aufgenommen hat, hat Nikan Zuflucht bei uns gefunden", mischt sich Dean in das Gespräch ein. Er setzt sich auf den Platz neben uns und nimmt einen Schluck von seiner Bierflasche.
"Pass auf, du befindest dich in einem Rudel voller Streuner", erinnere ich ihn, doch bin ihm nicht böse. Es ist fast wie früher, als wir uns gerauft und geneckt haben. Ähnlich wie es bei River und ihm abläuft.
"Und wie lange bist du bei Silver untergekommen?", fragt sie weiter.
Ich beginne mit meiner Hand über ihren Oberschenkel zu streichen und erzähle: "Fast zwei Jahre. Bis ich es dann nicht mehr ausgehalten habe. Obwohl ich mich wohl gefühlt habe, war es dennoch nicht mein Rudel und ich war immer noch ein Alpha."
"Ein Sturkopf meinst du?", mischt sich nun auch Luke mit einem warme Lächeln auf den Lippen ein und nimmt anschließend ein Schluck aus seiner Bierflasche.
"Sagen wir so, ich hatte immer noch meine eigenen Ansichten."
River nickt verstehend. "Und dann bist du auf Clayton gestoßen?"
"Ja, wir sind uns in der Nähe von Vermont begegnet. Dann sind wir eine Weile gemeinsam durch die Wälder gezogen. Wir hatten gar nicht vor so lange zusammen zubleiben, aber es war sicherer für uns zu zweit durch unbekannte Gebiete zu laufen. Mit der Zeit hat sich herausgestellt, dass wir ähnliche Ansichten haben und der Traum von einem eigenen Rudel ist entstanden. Wir hatten plötzlich wieder Hoffnung, dass nicht wir das Problem sind, sondern einfach nicht in unsere vorherigen Rudel gepasst hatten. Also haben wir das Greyblood Rudel gegründet und na ja, den Rest kennst du ja."
"Und obwohl ihr euch zerstritten habt, habt ihr euch dennoch nicht aus den Augen verloren." River lässt ihren Blick zwischen uns drein hin und her wandern.
Wir nicken alle zeitgleich mit dem Kopf zur Bestätigung.
"Wie sind Freunde gewesen, doch nach einer gewissen Zeit hat jeder von uns auch politische Rollen im Rudel übernommen. Es war kompliziert unsere Albernheiten und kindlichen Freuden mit der Rudelpolitik unter einen Hut zu bekommen", ergänzt Luke. Seine Blick ruht eine Weile auf mir. Ich erkenne Trauer. Der Verlust unserer Freundschaft geht ihm nah. Mich lässt es auch nicht kalt.
Irgendwann ist jeder von uns Erwachsen geworden und wir mussten Prioritäten setzen. Luke und Dean haben ihr Rudel gewählt. Ich habe meines gewählt. Silver hatte gewusst, dass uns diese Entscheidung entzweien wird und hat uns vermutlich deshalb das Angebot mit der Allianz gemacht. Bis heute dachte ich, dass ich keinen Nutzen von dieser Verbindung hatte, doch nun realisiere ich, dass es funktioniert hat. Ohne diese Allianz wären Dean und Luke jetzt nicht hier. Ich weiß nicht, ob Silver so weit voraus geplant hat, aber ich bin ihr dankbar dafür, dass sie es getan hat. Egal welches Ziel sie am Ende damit verfolgt hat. Angefreundet haben wir uns vielleicht noch nicht wieder miteinander, aber zerstritten sind wir auch nicht mehr.

MoonshadowWhere stories live. Discover now