Montag, 16. Juni. 2008

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Liebes Tagebuch,

heute war in der Schule nicht besonders viel los. Meine Klassenlehrerin wollte nach der Schule mit mir sprechen. Sie und Mama waren mal gute Freunde gewesen und sie wollte wissen, ob alles in Ordnung ist, weil sie Mama schon eine Zeit lang nicht mehr gesehen hat, obwohl sie mich doch sonst immer zu Schule gebracht hat. Außerdem war ihr aufgefallen, dass ich in letzter Zeit immer Unterschriften nicht hatte, obwohl Mama da immer drauf geachtet hatte und sie machte sich Sorgen, weil ich mich in der Klasse immer mehr zurückzog. Ich habe einfach im Moment keine Zeit, mich mit den anderen zu beschäftigen.

Ich will, dass es Mama besser geht und dass es ihr schlecht geht, müssen die anderen ja nicht wissen.

Meine Klassenlehrerin schon gar nicht.

Ich habe ihr gesagt, dass alles in Ordnung ist und bin dann nach Hause gegangen.

Dort war gerade auch Frau Schuster auf dem Weg zu uns und ich habe sie mit hereingelassen.

Als wir das Haus betreten haben, habe ich ein Klimpern in der Küche gehört und bin gleich hingelaufen.

Mama war wach.

Sie hat sich gefreut und hat mich in den Arm genommen.

Es war das erste Mal seit Tagen, dass sie vor dem Mittagessen aufgestanden ist.

Frau Schuster hat erklärt, dass wir heute etwas machen würden, wo ich auch mitmachen kann.

Sie hat uns einen Zettel hingelegt und ich habe mich mit an den Küchentisch gesetzt.

Auf der Liste stand mit dicker Schrift: Dinge, die ich gut kann. Sie sagte, wir sollen alles aufschreiben, was uns einfällt und ich fing sofort an, damit.

Dinge, die ich gut kann:

- Malen

- Mama zum Lachen bringen

- Mich um Mucki kümmern

- Nudeln knusprig kochen

- Listen schreiben

Frau Schuster hat sich dann zuerst meine Liste angesehen und gefragt, was Mucki ist und was ich mit Nudeln knusprig kochen meine.

Ich habe ihr Mucki dann gezeigt, der die ganze Zeit auf dem Küchentisch gesessen hat. Mama hat ihr dann erklärt, dass meine Nudeln halt noch ein bisschen mehr als bissfest waren.

Ich habe doch geschrieben, dass ich sie knusprig koche!

Frau Schuster hat dann gelacht. Das war gemein! Ich übe ja noch!

Dann wollte sie sich Mamas Liste ansehen, aber ihre war noch leer ...

Sie hat wieder angefangen zu weinen und gesagt, dass sie nicht weiß, ob sie überhaupt irgendwas kann.

Ich habe mir ihre Liste genommen und hab angefangen zu schreiben.

Dinge, die Mama gut kann:

- Kochen

- Gutenachtgeschichten vorlesen

- Mich zum Lachen bringen

- Sich Sorgen um mich machen

- Mich liebhaben

- Sich um mich kümmern

- Ausflüge Organisieren

- Mit mir Hausaufgaben machen

Mama ist mein Superheld ...

Um diese Liste zu machen, habe ich nicht mal zwei Minuten gebraucht und ich bin mir sicher, dass Mama ganz genau weiß, dass sie das gut kann. Warum hat sie es nicht selbst aufgeschrieben?

Mama hat die Liste genommen und gelesen, dann hat sie noch mehr geweint und mich in den Arm genommen. Sie hat gesagt das sie nicht weiß, was sie ohne mich machen würde.

Frau Schuster hat später gesagt, dass es gut war, dass ich das gemacht habe. Dass ich Mama dabei geholfen habe, ein Loch in ihrem Regenschirm zu flicken. Sie hat gesagt, dass es wichtig ist, für Mama immer wieder zu hören, wie wichtig sie für mich ist. Das hilft ihr dabei, dass der Regenschirm nicht noch weiter kaputtgeht.

Als ich sie gefragt habe, wie viele Löcher der Regenschirm jetzt noch hat, konnte sie mir keine Antwort geben. Sie hat gesagt, das weiß sie nicht und dass das wahrscheinlich nicht mal Mama weiß. Wir wissen erst, ob alle Löcher zu sind, wenn sie nicht mehr nass wird.

Liebes Tagebuch, ich habe Angst davor, dass meinem Superhelden etwas passiert. Irgendwie hat er seine Kraft verloren. Ich hoffe, dass Mama ihre Superkräfte bald wiederhat und ohne Regenschirm leben kann, damit alles wieder so wird wie früher ...

Mama hat ihren Regenschirm verloren - Wie Depressionen eine Familie verändernWhere stories live. Discover now