Freitag, 30. Mai. 2008

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Liebes Tagebuch,

heute ist was Komisches passiert.

Ich bin gerade von der Schule nach Hause gekommen und wollte Mama von meinem Tag erzählen. Ich habe ihr im Kunstunterricht ein Bild gemalt, was ich ihr unbedingt zeigen wollte.

Ich habe sie und mich gemalt, wie wir auf den Bären ritten, die wir im Zoo gesehen hatten. Ich saß auf dem kleinen Bären gemeinsam mit Mucki und hatte mich in das weiche Fell gelegt, während Mama auf dem großen saß und ein besorgtes Gesicht machte.

In einer Sprechblase über ihrem Kopf stand mit krakeliger Schrift: „Das ist viel zu gefährlich".

Man kann die Schrift kaum lesen und nur mit sehr viel Fantasie erkennen, was da eigentlich steht. Zu meiner Verteidigung muss ich sagen, dass es wirklich schwierig ist, mit einem Pinsel zu schreiben.

Ich finde das Bild mehr als gut gelungen und war mir sicher, dass Mama es gefallen würde. Ich tat sowas immer, wenn mir Mama etwas verboten hatte. Ich malte ein Bild ,auf dem genau das tat, denn wenn ich es in Wirklichkeit machte, würde es einen Riesen Ärger geben und so passierte das in meiner Fantasie und es konnte mir niemand verbieten.

Ich habe Mama im ganzen Haus gesucht, weil ich ihr unbedingt mein Bild zeigen wollte. Ich habe sie schließlich im Keller gefunden, wo sie gerade dabei war, die Wäsche zu machen. Als ich ihr das Bild gerade zeigen wollte, klingelte es und da Mama gerade zwischen Kiloweise Wäsche hockte, schickte sie mich zur Tür.

Ich kann mich noch genau daran erinnern, was ich als Erstes gesehen habe, als ich die Treppe nach oben kam. Unsere Haustür besteht oben aus Glas und ich konnte durch das Glas blaues Licht leuchten sehen.

Es klingelte ein zweites Mal und ich öffnete die Tür einen Spalt. Mich hat eine Polizistin angesehen, die direkt vor mir stand. Sie hat mich gefragt, ob sie kurz hereinkommen kann und ob Mama zu Hause ist. Ich habe ihr gesagt, dass Mama mit der Wäsche beschäftigt ist und ich nicht weiß, ob ich sie hereinlassen darf, weil Mama nicht wollte, dass ich fremde Leute ins Haus hineinließ.

Sie sagte daraufhin, dass man die Polizei immer hereinlassen muss und ist einfach hereingekommen. Sie hat gesagt, dass ich Mama holen soll und ich bin wieder in den Keller gerannt und habe Mama gesagt, dass die Polizei da ist. Sie hat die Wäsche sofort liegen lassen und ist mit mir wieder nach oben gelaufen.

Die Polizistin hat Mama gesagt, dass sie über etwas Wichtiges mit ihr sprechen muss und dass es besser wäre, wenn „die kleine" in ihr Zimmer geht.

Hast du das gehört? Sie hat klein zu mir gesagt. Ich bin schon groß!

Zum Zeitpunkt des Tagebucheintrages bin ich sieben Jahre, neun Monate und vier Tage alt. Das sind, 2794 Tage. Ich muss zugeben, dass ich keine Ahnung habe, wie man diese Zahl ausspricht und ich habe auch noch nie so eine hohe Zahl geschrieben. In der Schule rechnen wir gerade mal bis 20 und die höchste Zahl, die ich jemals schreiben musste, ist 2008, und zwar immer genau dann, wenn ich in der Schule das Datum schreiben muss. Aber gerade, weil ich eine so hohe Zahl nicht kenne, ist jetzt wohl mehr als klar, dass ich nicht mehr klein bin!

Mama hat mich allerdings tatsächlich auf mein Zimmer geschickt. Ich war aber nur aus der Küche gegangen und habe mich hinter die Tür gestellt, um zu lauschen. Ich war immerhin schon groß genug, um so was auch mitzuhören. Ich gehe immerhin schon in die zweite Klasse. Klein war man nur, wenn man noch in den Kindergarten ging und das tat ich längst nicht mehr.

Ich lauschte, was die Polizistin erzählte. Viel von dem, was sie sagte, verstand ich nicht, aber sie brachte Mama zum Weinen.

Sie sagte, dass Papa verhaftet wurde. Er hat etwas Schlimmes getan. Die Polizistin erzählte, dass durch ihn jemand gestorben ist.

Sie nannte es Mord.

Ich weiß nicht genau, was das bedeutet, aber es scheint kein schönes Wort zu sein, wenn es Mama so traurig macht und die Tatsache, dass wegen Papa jemand gestorben ist, macht mich traurig. Ich schnappte noch ein paar Wörter auf.

Gefängnis,

Gericht

Prozess

Jetzt, wo ich es schreibe, denke ich darüber nach. Was ein Gefängnis ist, weiß ich. Dort kommen Menschen hin, die böse waren. Und da Papa jemand anderen etwas Schlimmes angetan hat, galt er jetzt auch offiziell als böse.

Im Deutschunterricht hatten wir gerade Teekesselchen. Wir haben gelernt, dass das Worte sind, die gleich geschrieben und gesprochen werden, aber eine unterschiedliche Bedeutung haben. Ein Beispiel ist Pony. Es gibt das Tier, Pony oder die Frisur. Ich bin mir sicher, dass Gericht auch eines sein muss. Denn wenn ich Gericht höre, muss ich an Essen denken und ich kann mir nicht vorstellen, dass die Polizistin erzählte, dass Papa irgendwas mit Essen machen musste.

Und Prozess konnte wohl auch nichts Gutes bedeuten, wenn Mama davon weinen muss.

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Ich blätterte auf die nächste Seite und musste grinsen. Wie unschuldig man mit sieben noch war, ich hatte damals nicht den Hauch eine Ahnung gehabt, was das bedeutete und dass, dass der Anfang von vielen Problemen werden sollte. Im Gegensatz zu euch weiß ich, was danach passiert ist und wünschte mir insgeheim ich wäre damals auf mein Zimmer gegangen und hätte dieses Gespräch nie mitbekommen. Vielleicht wäre dann alles anders geworden... Nein, wäre es nicht. Das ist nur das, was ich mir jetzt gerade versuche einzureden. Ich richtete meine Augen wieder auf die Zeilen und las weiter.

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Ich habe noch eine ganze Zeit gewartet, dann bin ich zu Mama in die Küche gelaufen und habe sie gefragt, warum sie weint. Ich mag es nicht, wenn sie traurig ist. Wenn sie traurig ist, bin ich auch traurig...

Mama ist zuerst wütend gewesen, weil ich nicht auf meinem Zimmer geblieben bin. Alle schienen nicht zu wissen, was sie sagen sollten, denn es wurde still.

„Wussten sie von seinem Vorhaben?"

Das war der Satz, mit dem die Polizistin das Schweigen gebrochen hat.

Mama hat mit „Nein" geantwortet und ihr erklärt, dass er in letzter Zeit sowieso kaum bei uns war und sie sich eigentlich schon immer allein um mich kümmerte.

Sie hat daraufhin gefragt, ob er ihr oder mir gegenüber manchmal gewalttätig wurde. Mama sagte, dass ihm hin und wieder mal die Hand ausgerutscht ist.

Liebes Tagebuch, ich muss jetzt ins Bett gehen. Mama hat endlich aufgehört zu weinen und sich hingelegt. Ich halte dich auf dem Laufenden...

Mama hat ihren Regenschirm verloren - Wie Depressionen eine Familie verändernWhere stories live. Discover now