Kapitel 1

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Es war nicht immer so gewesen wie jetzt. Früher, da waren die Häuser so groß, dass sie in den Himmel ragten und es gab so viele Menschen, dass man sie noch am Horizont sehen konnte. Die Welt war bunt gewesen und es gab so viel zu entdecken, dass man sein ganzes Leben damit verbringen konnte. Jeder war in der Lage gewesen, jeden – war er auch noch so fern – zu erreichen und innerhalb von Sekunden mit ihm zu sprechen. Man konnte überall leben auf dieser Welt. Keine Kultur war so fern, dass man sie nicht kannte. Keine Sprache so kompliziert, dass man sie nicht lernen konnte. Alles war nah und doch so weit gewesen. 

Frei. 

Und jedes Problem lösbar.

Seufzend ließ Anna ihr Buch sinken und sah in die Ferne. Sie saß an einer der Klippen und blickte hinaus auf das weite Meer. Früher war es wohl einmal blau gewesen. Zumindest stand das in einem der Bücher, die sie gefunden hatte. Heute war es grün und dreckig. Niemals wäre sie auf die Idee gekommen, darin baden gehen zu können, so wie es die Protagonistin in ihrem Roman getan hatte. Was konnte jemanden dazu bewegen, in dieser Brühe schwimmen gehen zu wollen? Darin mit dem Liebsten herumzutollen und sich danach in den Sand zu legen. Sand... diese cremige, braune Masse, die man kaum vom Erdboden unterscheiden konnte. Außerdem brannte er, wenn er mit der nackten Haut in Kontakt kam. Das hatte Anna schon selbst ausprobiert und sie erinnerte sich immer noch an Agatas Strafe für ihr Fehlverhalten. Tief atmete die junge Blondine ein und strich zärtlich über den goldgelben Einband ihres Buches. >Lebe, Liebe, Loslassen<. Wenn Agata gewusst hätte, dass Anna sich mit solchen Themen auseinander setzte, wäre die nächste Strafe sofort fällig gewesen. So etwas war ihr nicht gestattet. Leben war ihr nicht gestattet. Noch nicht zumindest. Leise seufzte Anna auf, erhob sich und genoss den warmen Wind, der ihre langen, feinen Haare um ihren Kopf wirbelte. Früher war er wohl manchmal auch kalt gewesen, genauso wie die Welt... Wie gerne hätte sie einmal Schnee gesehen. Es musste prächtig aussehen, wenn alles, was man kannte, unter einer weißen Haube verschwand und zu glitzern begann. So stellte sie es sich zumindest vor – Schnee würde sie niemals sehen. Für sie würde es immer nur die Hitze geben. Die flackernde Luft und dünne Kleidung, denn die Sonne ging niemals unter. Nicht einmal im Dunkel der Nacht. Mit diesen Gedanken setzte sich Anna in Bewegung. Sie war nicht weit weggegangen, immerhin war es bald soweit. Ben würde sie verlassen. Ihr Ben würde endlich zu leben beginnen, während sie noch weitere Wochen hier ausharren musste, ehe sie ihren Platz in der Welt einnehmen durfte.

„Da bist du ja." Kaum dass ihr Heim in Sichtweite kam, entdeckte sie auch schon den jungen Mann, der bis eben an der Ruine einer Mauer gelehnt hatte. Seine schwarzen, schulterlangen Haare waren so verwuschelt wie jeden Tag und seine blauen Augen, die genauso intensiv wie ihre eigenen waren, leuchteten ihr entgegen. Lächelnd blieb sie vor Ben stehen und hielt zur Begrüßung ihre beiden Handflächen einige Zentimeter vor ihr Gesicht. Ben tat es ihr gleich, während sein Blick ausdruckslos blieb. Er sich lässig von der Wand abstieß und stellte sich Anna genau gegenüber. Sie wusste, wie sehr er es hasste, wenn sie alleine das Camp verließ und ihm nicht sagte, wohin sie ging. Aber Anna liebte es, alleine zu sein, denn ihr gefiel die Ruhe, in der sie einfach nur ihre Bücher lesen und von einem anderen Leben träumen konnte. Argwöhnisch sah Ben zu dem Buch, das die junge Frau immer noch in ihrer Hand hielt.

„Das solltest du verschwinden lassen", erklärte er, während er sich mit der Hand durch seine Haare fuhr. Anna liebte es, wenn er das tat. Seine Haare sahen dann immer so leicht aus und es war faszinierend zu beobachten, wie sie alle wieder an ihren Platz zurückfielen, und ihn weiterhin perfekt aussehen ließen.

„Wenn Agata das sieht, kriegst du nur wieder Ärger." Ben streckte die Hand aus und wollte nach dem Buch greifen, stoppte dann aber in der Bewegung. Anna wusste sofort, was sein Problem war, weshalb sie schweren Herzens den goldenen Einband losließ und ihren Schatz Ben entgegen streckte. Der junge Mann packte sich das kleine Etwas und ließ es in seinem Hosenbund verschwinden. Sein Blick hingegen hing weiterhin an Anna. Diese sah zu ihren Fingerspitzen. Wie es sich wohl anfühlte, wenn Ben sie berührte? Würde es so kribbeln wie bei der Heldin in ihrem Buch, als sie von ihrem Liebsten zum ersten Mal in den Arm genommen wurde?

Just One Touch - Nur eine BerührungOù les histoires vivent. Découvrez maintenant