Kapitel 12

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Mit klopfendem Herzen blickte Anna auf das kleine Wunder in ihren Armen. Es war ein Junge, den Mirja eben zur Welt gebracht hatte. Ein kleiner Junge, der mit seinen strahlenden, blauen Augen der Blondine vor sich erwartungsvoll entgegen blickte. Er war ein neues Leben. Ein neues Wunder auf dieser Welt, die sonst oft so trist war. Anna hob ihren Blick kurz und sah zu Mirja, die gerade von ihrer Mutter gewaschen wurde. Die beiden anderen Frauen, die sie hier in Empfang genommen hatten, standen einige Meter von Anna und dem kleinen Jungen entfernt. Wie er wohl heißen würde? Und was für ein Mensch wohl einmal aus ihm werden würde? Anna liebte ihn jetzt schon und das, obwohl sie ihn zwar zur Welt geholt, aber nicht selbst geboren hatte. Ja, diese Arbeit war eindeutig etwas Besonderes, ganz so wie ihre Mutter es gesagt hatte. Hebamme. Anna konnte sich plötzlich vorstellen, dafür geboren worden zu sein. Als der kleine Junge vor ihr zu quengeln begann, wendete Anna sich ihm wieder zu und lächelte. Es war, als würde er ausprobieren, was er schon alles konnte. So streckte er seine kleinen Beine und reckte Anna seine zehn kleinen Zehen entgegen. Dann hob er seine Arme und ...

Anna erstarrte.

Seine linke Hand... sie fehlte. Warum war ihr das nicht vorher aufgefallen? Die Geburt war so hektisch verlaufen und die junge Frau hatte schon lange in den Wehen gelegen, als Anna und ihre Mutter hier angekommen waren, dass sie es einfach nicht bemerkt hatten. Den kleinen Jungen schien sein Makel aber nicht zu stören. Er lachte Anna entgegen, als wäre er vollkommen. Anna lächelte ebenfalls. Genau das war er auch. Wen störte es schon, wenn er keine linke Hand hatte? Die meisten Menschen waren sowieso Rechtshänder und auch der kleine Junge würde damit zurechtkommen. Liebevoll hielt sie ihm ihre Finger vor das Gesicht, nach denen er sofort mit der rechten Hand zu greifen versuchte. Jedoch war er dazu noch lange nicht in der Lage, sodass er immer wieder ins Leere griff. Doch er gab nicht auf. Der kleine Kämpfer versuchte es immer wieder, bis seine kleinen Finger schließlich Annas Daumen ergriffen hatten.

„Oh Gott." Anna hatte gar nicht bemerkt, dass ihre Mutter neben sie getreten war. Sie stieß lautstark Luft aus und besah den Jungen mit verschränkten Armen. Dieser hatte sie nun auch entdeckt und streckte seine Arme aus, um nach Annas Mutter zu greifen, doch diese trat einen Schritt zurück. Als wäre das Kind giftig.

Tödlich.

„Leg ihn weg, Anna", befahl die ältere Frau. Fragend blickte die Blondine sie an. „Leg ihn weg und entferne dich von ihm. Die Wachmänner werden sich darum kümmern."

„Was soll das bedeuten?", fragte Anna vorsichtig - konnte sie sich die Antwort doch schon denken. „Was sollen die Wachmänner hier?" Ihre Eltern hatten ihr eingebläut, nachdem sie an ihrem ersten Tag einfach so Ben hinterher gelaufen war, dass die Wachmänner eine Stellung innehatten, der Respekt gebührte. Anna hatte schon im Camp vieles über die verschiedenen Klassen und Wertvorstellungen gelernt, aber die Ehrfurcht in der Stimme ihrer Eltern hatte ihr noch einmal verdeutlicht, wie sehr der Stand der Wachmänner in der Gesellschaft angesehen war. Lydia seufzte und setzte zu einer Antwort an, als plötzlich die Stimme der Mutter des kleinen Kämpfers ertönte.

„Gebt ihn mir", rief sie freudig, „Gebt mir meinen kleinen Gabriel." Gabriel. Anna starrte auf das Kind in ihren Armen. Was für ein schöner Name für ein so wunderbares Kind.

„Es tut mir leid", hörte Anna ihre Mutter seufzen. Lydia überbrückte die paar Meter und stellte sich neben Mirja, deren Blick von freudig zu ängstlich wechselte. Sie sah von Anna zu ihrem Baby und wieder zu ihrer Hebamme zurück. Lydia fuhr der jungen Mutter mit der Hand über die zitternde Wange.

„Was ist mit ihm? Was ist mit meinem Baby?" Anna sah wieder zu dem kleinen Gabriel in ihren Armen. Nachdenklich fuhr sie über den Stumpf, an den eigentlich ein Handgelenk angrenzen sollte. Gabriel begann wieder zu kichern. Nicht einmal Schmerzen schien er zu haben, was also war so schlimm an ihm?

Just One Touch - Nur eine BerührungWhere stories live. Discover now