Kapitel 20

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„Ich hoffe, du weißt, was du tust." Ben nickte seinem Vater zu.

„Es ist eine große Chance. Unsere Männer müssen ihnen näher gekommen sein, wenn sie einen von uns gefangen nehmen."

„Oder aber sie sind zufällig aufeinander getroffen. Vielleicht haben die Rotäugigen ebenfalls Späher ausgesendet und diese Truppen sind sich dann begegnet." Bens Vater hatte seine typische Haltung eingenommen. Die Arme hinter dem Rücken verschränkt sah er seinem Sohn mahnend entgegen.

„Das mag auch sein, aber es ist eine Möglichkeit, die sich uns vielleicht nie wieder bietet", erklärte Ben. Er musste sich bemühen, ruhig zu wirken, während er seinem Vater stur in die Augen blickte. Noch waren er und Noel bloß Anführer einiger Gruppen unter den Wachmännern. Das Kommando gehörte nach wie vor seinem Vater. Dieser wendete sich ab und sah aus dem Fenster.

„Du bist noch nicht allzu lange bei uns, Benjamin, und doch scheinst du alles unter Kontrolle zu haben. Selbst deinen Bruder." Ben schritt neben seinem Vater und sah hinunter zum Tor, wo sich die Wachmänner versammelten. Noels blonde Lockenpracht konnte er jedoch nicht entdecken.

„Wir ergänzen uns", erklärte er, was seinem Vater ein leichtes Lächeln abrang.

„Sehr diplomatisch." Damit schien für ihn das Thema beendet zu sein. „Nun gut, dann geht. Aber Benjamin, sei dir bewusst, dass du eine Hand voll Männer zum Schutz von Domilus zurücklassen musst. Kein Sieg der Welt wird etwas bringen, wenn du nichts hast, wohin du zurückkehren kannst." Ben nickte.

„So weit wird es nicht kommen." Zum Abschied hob Ben seine Hände vor sein Gesicht und verließ den Raum, ohne dass sein Vater diese Geste erwidert hatte. Kaum dass er die Tür hinter sich geschlossen hatte, atmete er erleichtert auf. Vor Noel hatte er sich zwar selbstsicher gegeben, als es darum ging, seinem Vater Bericht zu erstatten, doch innerlich hatte er selbst nicht gewusst, wie der Ältere reagieren würde. Seit er das Thema um seinen Bruder angesprochen hatte, konnte Ben seinen Gefühlen ihm gegenüber nicht mehr trauen. Sein Vater würde für ihn immer eine Respektsperson und großes Vorbild sein, nachdem er das alles hier erschaffen hatte, aber einschätzen konnte Ben ihn nicht mehr. Wenn er es denn jemals gekonnt hatte.

„Dann muss ich die Männer wohl doch nicht zurückrufen." Ben hatte seinen Bruder bereits bemerkt, bevor er zu sprechen begonnen hatte. Er lehnte am Treppengeländer und schien auf ihn gewartet zu haben. Nachdem Ben ihn nicht bei den Männern am Wagen hatte sehen können, hatte er damit gerechnet, ihn hier vorzufinden.

„Nein, Vater ist einverstanden", erklärte er, als er an Noel vorbeiging und neben ihm die Treppe nach unten schritt.

„Er scheint dich gern zu mögen." Verwundert hob Ben eine Augenbraue.

„Das sollte er wohl als unser Vater." Noel verzog keine Miene.

„Wahrscheinlich", entgegnete er schulterzuckend. Danach herrschte Stille zwischen den beiden Brüdern, die Ben aber keineswegs als unangenehm empfand. Es fühlte sich eher an wie die Ruhe vor dem Sturm, als sie sich ihre Schutzwesten überstreiften und ihre Waffen nachluden. Erst als alle sich vorbereitet hatten und die drei Transporter abfahrbereit waren, stieg Noel auf eine der Plattformen und sah von dort auf die Männer herab.

„Heute könnte ein großer Tag sein." Ben stellte sich neben seine Männer und beobachtete Noel genau. Seine Stimme war erhaben und ruhig, aber auch bestimmend. Genauso wie sein Auftreten. Ab diesem Moment konnte er wohl nicht mehr leugnen, der Sohn seines Vaters zu sein. „Wieder haben wir Männer verloren. Kameraden. Freunde. Aber heute ist der Tag der Abrechnung. Wir wissen innerhalb eines kleinen Radius, wo das Lager dieser Viecher sein muss, und deshalb werden wir endlich in der Lage sein, diese Brut auszurotten. Tötet jeden, der euch angreift, und zögert nicht. Sie haben unsere Freunde getötet. Unsere Familie. Und jetzt werden wir das endlich beenden." Die Männer jubelten. „Und denkt daran, wir werden in einiger Entfernung parken und später erst die Fahrzeuge zu uns holen. Wir müssen leise sein und bedacht, um die Überraschung auf unserer Seite zu haben. Heute ist der Tag der Abrechnung. Heute ist der Tag, an dem wir unsere Welt zurückerobern werden!" Wieder jubelten die Männer. Sie streckten ihre beiden Arme in die Höhe, die Hände zu Fäusten geballt. Anerkennend sah Ben zu seinem Bruder, der von dem Transporter sprang, während die Männer ihren Weg hinauf suchten. Ben nickte ihm zu. Noels Mundwinkel zuckten zu einem Grinsen, als er ebenfalls nickte. Dann stiegen die beiden Männer vorne in jeweils ein Fahrzeug ein und die Kolonne setzte sich in Bewegung. Im Seitenspiegel sah Ben, wie einige Frauen und andere Arbeiter hinter den Abfahrenden her jubelten und riefen. Er lehnte sich zurück und versuchte, seine Umgebung auszublenden. Das hier war seine Chance, sich zu beweisen. Und es war eine Chance, die Gefahr von seiner Stadt abzuwenden. Hinter ihnen schlossen sich die Tore von Domilus. Es verschwand langsam in der Ferne, während Ben bewusst wurde, dass er alles für diese Menschen dort tun würde. Einfach alles. Domilus war sein zu Hause und das bedeutete, dass die Menschen, die dort lebten, genauso seine Familie waren wie sein Vater und Noel. Sie verließen sich auf ihn. Auf ihn und sein Vorhaben. Obwohl er noch nicht so lange dort lebte wie die meisten von ihnen, gehorchten sie seinen Befehlen und respektierten ihn. Ben kam es vor, als wäre er niemals woanders gewesen und mit einem Mal war er froh, im Camp aufgewachsen zu sein. Vorher hatte er es nur als lästig empfunden, jetzt aber war er dankbar. Dankbar für die Geschichts- und Politikstunden. Dankbar für die Informationen über all die Arten, auf die Menschen leben konnten. Dankbar für die Kampfstunden mit Don. Wenn dieser Ort ihn nicht so geprägt und aufgebaut hätte, vielleicht wäre Ben dann ein verzogener Junge geworden, der im Luxus mit der Aussicht auf Macht aufgewachsen wäre. Mit einem Mal war ihm bewusst, wie wichtig diese Camps waren. Auch wenn es bedeutete, so lange von der Familie getrennt zu sein.

Just One Touch - Nur eine BerührungWhere stories live. Discover now