Kapitel 23

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Begierig sog Anna alles in sich auf, was Domilus zu bieten hatte, und sie musste zugeben, dass diese Stadt atemberaubend war. Sogar eine Familie mit einem kleinen Baby auf dem Arm hatte sie gesehen, das sie sehr an die Patientin aus ihrem Heimatdorf erinnerte, die sie an ihrem ersten Tag dort kennen gelernt hatte. Plötzlich begann sie es zu vermissen und zum ersten Mal seit ihrem Sturz dachte sie ernsthaft darüber nach, zu ihren Eltern zurückzukehren. Sie hatte Ben davon erzählt, der ihr nur versichert hatte, dass er mit ihr zusammen in ihr Dorf gehen und ihre Eltern kennen lernen wollte. Zuerst einmal hatte er aber einen seiner Männer zu ihnen geschickt, um ihnen mitzuteilen, dass ihre Tochter noch lebte. Anna hatte lange überlegt, ob es sie interessieren würde, war dann aber zu der Entscheidung gekommen, dass sie zwischen ihnen differenzieren musste. Klaus – ihr Vater – war sicherlich froh, sie wieder losgeworden zu sein, aber ihre Mutter hatte sich bestimmt Sorgen gemacht und würde erleichtert sein, dass es Anna gut ging. Innerlich hatte Anna sich selbst geohrfeigt, dass sie nicht früher daran gedacht hatte, ein Lebenszeichen an ihre Eltern weiterzugeben. Auch wenn Kean das sicherlich nicht zugelassen hätte.

„Dort ist unser Trainingsgebäude." Ben öffnete die Tür zu dem Haus, vor das er sie geführt hatte, und Anna trat ein. Ein schrecklicher Geruch schlug ihr entgegen.

„Was ist das denn?", fragte sie angewidert, während sie sich ihre Nase zuhielt. Ihre Stimme klang plötzlich furchtbar quietschig und hoch. Sie sah, wie Ben für einen kurzen Moment die Treppe vor ihnen nach unten schielte, dann jedoch deutete er nach oben.

Zögerlich folgte Anna ihm.

„Was ist da unten?" Die Frage brannte ihr auf der Seele und sie kam nicht umhin, sie zu stellen. Widererwartend zögerte Ben nicht einen Moment, ehe er ihr antwortete.

„Dort unten ist nichts Interessantes. Die Räume sind vermodert und alt. Daher kommt wohl auch der Geruch. Aber jetzt komm, ich will dir noch die Trainingsräume zeigen." Anna nickte. Sie war froh, dass Ben und sie endlich wieder unbeschwerter miteinander umgehen konnten. Sie musste zugeben, dass seine Worte etwas in ihr bewirkt hatten. Ob sie wollte oder nicht, sie konnte ihn verstehen. Seine Beweggründe und seine Meinung zu diesem Thema, die sie immer noch nicht vollkommen teilen konnte. Aber die Schamee waren auch nicht im Recht. Beide Völker machten Fehler und keines von ihnen würde jemals auf den anderen zugehen. Keines von ihnen würde dem anderen das Recht zu leben einräumen. Nicht nach dem, was geschehen war. Kean war wie Ben voller Abneigung gegen den jeweils anderen, sodass Anna sich nicht vorstellen konnte, dass sie beieinander leben konnten. Miteinander. Sie würden einander nicht am Leben lassen und keiner von ihnen konnte von hier fort. Das Meer oder die Berge zu überqueren war unmöglich. Besonders mit Frauen und Kindern.

Mit diesen Gedanken im Hinterkopf folgte Anna Ben den ganzen Tag durch die Stadt und es dauerte bis zum späten Nachmittag, bevor sie sich traute, den jungen Mann um ein wenig Zeit für sich alleine zu bitten. Ohne etwas einzuwenden brachte er sie auf ihr Zimmer und verabschiedete sich. Dankbar lächelte Anna ihm entgegen, ehe sie die Tür schloss und durch das Zimmer lief. Seufzend ließ sie sich auf dem Tisch nieder, der direkt vor dem einzigen Fenster stand, und sah in die Ferne. Bens Worte hallten durch ihre Ohren wie ein Echo, dem sie nicht entkommen konnte. Sie hatte in den letzten Monaten, seit sie das Camp verlassen hatte, so viel erfahren und erlebt, wie sie es nie für möglich gehalten hätte. Früher war ihre einzige Sorge gewesen, dass sie Ben vielleicht niemals wiedersehen und in eine andere Region kommen würde. Das war sie im Endeffekt auch, aber Bens Arbeit hatte sie doch zusammengeführt. Und wieder getrennt. Immer wieder huschte das Bild von Gabriel durch ihre Gedanken. Dieses kleine, neugeborene Wesen, das Ben einfach getötet hatte. Seine Erzählungen über Domilus und seine Bewohner, Bens rechtschaffene Absichten, alle zu retten, und die Sicherheit hinter diesen hohen Mauern ebenso zu gewähren wie die in den Dörfern, klang richtig und gerecht. Aber dafür die Schamee zu töten? Kenia, Adrian, Kean... Talia, die nun bei ihnen leben musste... Wie konnte etwas so richtig klingen, wenn es doch so falsch war? Wie konnte Ben von etwas so überzeugt sein, das den Tod von so vielen bedeutete? Egal ob rotäugig, entstellt oder perfekt. Mensch blieb Mensch, oder nicht? Aber dann war da wieder dieses Argument, dass viele doch wichtiger waren als einer... Was wenn Ben recht hatte, und die Tatsache, dass die Rotäugigen weiter existierten und Kinder und Kindeskinder bekamen, die Menschheit in Gänze über Kurz oder Lang ausrotten würden? Dass ihr Blut und ihre Gene dafür sorgten, dass irgendwann dadurch niemand mehr lebensfähig sein würde? Dass es nicht dabei bleiben würde, dass ihnen ein Arm oder ein Bein fehlte, sondern der Kopf oder die inneren Organe?

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