Kapitel 7

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Als Ben am nächsten Morgen erwachte, blieb er noch einige Zeit einfach liegen und starrte hinauf an die Zimmerdecke. Nachdem sein Vater ihm gestern das gesamte Haus gezeigt und ihm einige der Angestellten vorgestellt hatte, war es Bernard gewesen, der ihn in sein Zimmer führte. Dieses war ein Raum, der größer war, als der gesamte Jungenschlafsaal, den Ben bisher mit so vielen anderen Kindern hatte teilen müssen. Es befand sich ein großes Bett aus hellem Holz darin, das direkt gegenüber der Tür stand. Daneben gab es zwei große Bücherregale, die prall gefüllt mit Wissen nur darauf zu warten schienen, gelesen zu werden. Ben hatte bei ihrem Anblick instinktiv an Anna denken müssen, die sich wahrscheinlich sofort auf die Bücher gestürzt hätte, wenn sie ebenfalls hier gewesen war. Obwohl der junge Mann sich sicher war, das keines davon ihren Geschmack getroffen hätte. Sein Vater schien ein sehr korrekter Mann zu sein, sodass es hier wohl auch nur reine Wissensbücher geben würde und keine Geschichten über Einhörner, Feen oder Prinzen. Ben selbst interessierte das alles wenig. Für ihn war das hier und jetzt wichtig und nichts sonst. Keine Fantastereien und keine stumpfsinnigen Theorien. Er wollte durch Erfahrung lernen und nicht aus dem Gekritzel steinalter Männer. Und deshalb erhob er sich schließlich und schritt zu seinem neuen Kleiderschrank. Dieser war ein hölzernes Ungetüm, das bis unter die Decke ragte und mit dunklen Ornamenten verziert war. Sie stellten Ranken dar, die sich quer über das Holz zogen und vergebens versuchten, den hölzernen Riesen elegant wirken zu lassen. Als Ben nun die Schranktür aufstieß, erwarteten ihn unzählige Kleidungsstücke, die allesamt in schwarz gehalten waren und sich kaum von dem dunklen Holz abhoben. Schwarz war die Farbe der Wache, wie sein Vater es ihm erklärt hatte, und nun deshalb auch die seine. Durch sie fielen die Wachmänner in der Menge nicht auf, konnten im Dunklen verborgen bleiben und wirkten respekteinflössend auf die Menschen, die sie beschützten. Ben musste zugeben, dass sein Vater ihm gefiel. Ebenso wie das Leben, das ihn zu erwarten schien. Er wollte etwas verändern und dazu würde er nun in der Lage sein.

„Bereit?" Die Stimme ertönte, als Ben sich das schwarze Shirt über den Kopf gestreift hatte. Der dazugehörige junge Mann saß auf dem hellen Holztisch, der mitsamt seinen sechs Stühlen rechts neben der Tür stand. Die blonden Locken des Mannes, der fünf Jahre älter als Ben war, umrundeten sein ovales Gesicht, das von seinen blauen Augen dominiert wurde, die Ben musterten. Er grinste.

„Können los." Ben streifte die schwarzen Boots über seine Füße und stellte sich neben den jungen Mann, der sich immer noch grinsend von dem Tisch erhob. Er hatte einen durchtrainierten Körperbau und war in etwa genauso groß wie Ben.

„Gut, Brüderchen, dann folge mir mal." Nachdem Bens Vater ihm gestern mitgeteilt hatte, dass er einen Bruder besaß, hatte Ben einige Momente gebraucht, ehe er sich an diesen Gedanken gewöhnen konnte. Er hatte sich nie vorgestellt, wie es wohl war, einen Bruder zu haben und doch war er nun da.

Noel.

Er sah Ben nicht einmal im Ansatz ähnlich und trotzdem waren sie Brüder. Blutsverwandt. Und sie hatten im Camp nebeneinander her gelebt, ohne etwas davon zu wissen. Noch ein Grund für Ben dieses System zu verabscheuen.

„Vater will, dass ich dir die Stadt zeige und dich dann zum Training begleite", erklärte Noel, während die beiden jungen Männer durch die Tür gingen. Ben nickte und folgte ihm wortlos.

„Schon komisch, was? Wir beide sind Brüder und dabei konnte ich dich im Camp nicht einmal leiden." Ben warf seinem Bruder einen skeptischen Blick zu.

„Siehst du, da. Genau deshalb. Du bist so ruhig und dann bloß diese Blicke... also könntest du durch mich hindurch sehen. Das war früher schon so gruselig."

„Gruselig?" Ben zog eine Augenbraue in die Höhe und betrat dabei die erste Treppenstufe. Noel nickte und zog einen Apfel aus seiner Tasche, den Ben ihm dankend abnahm. Er wischte ihn mit seinem Ärmel ab, ehe er den ersten Bissen nahm. Wer konnte schon wissen, wie lange Noel das Lebensmittel schon in seiner Hosentasche herum trug.

Just One Touch - Nur eine BerührungWhere stories live. Discover now