Kapitel 11

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Anna beobachtete, wie ihr Vater zu den anderen Männern aufs Feld trat und sich eine der Hacken nahm, die dort nur auf willige Arbeiter zu warten schien. Er hatte nicht ein Wort mehr gesprochen, während sie beinahe zwei Stunden hierher gelaufen waren. Nun hatte er sich von Lydia verabschiedet, während er für Anna nur ein knappes Lächeln übrig gehabt hatte. Anna seufzte. Irgendwie hatte sie gedacht, dass er sich mehr freuen würde, nachdem er seine Tochter nun endlich nach zweiundzwanzig Jahren wieder bei sich hatte.

„Kommst du?" Anna drehte sich um und lief ihrer Mutter hinterher in den Wald hinein. Es war ein kleiner Trampelpfad, dem Lydia bereits einige Meter gefolgt war, ehe die Blondine mit ihr aufschloss.

„Habe ich deinem Mann etwas getan?" Anna blieb dicht hinter ihrer Mutter und zog die Tasche dichter an ihren Körper. Der Wald um sie herum wirkte plötzlich um so vieles Bedrohlicher, da Anna ihn nicht mehr so gut kannte, wie sie es im Camp getan hatte. Unwillkürlich fragte sie sich, wie viele Gefahren sie wohl ignoriert oder Ben für sie beseitigt hatte. Wie viel hatte er für sie getan, ohne dass sie es bemerkte? Und war das der Grund, weshalb er sie schlussendlich am Tag seiner Abreise verriet?

„Er ist einfach ein verschlossener Mann", murmelte Lydia, „Außerdem haben wir unser Kind zweiundzwanzig Jahre lang nicht gesehen. Da muss eben erst einiges neu aufgebaut werden."

„Das verstehe ich", entgegnete Anna ruhig, „Aber ich muss mich doch genauso an euch gewöhnen. Ich verstehe einfach nicht..."

„Ruhe", unterbrach Lydia ihre Tochter barsch. Wut stieg in Anna auf.

„Wieso? Ich wollte doch nur mit dir darüber reden, dass..."

„Ruhe"

„Aber als Tochter habe ich doch das Recht..."

„Anna! Ruhe jetzt!" Sie erstarrte. Seit wann redete ihre Mutter so mit ihr? Im Gegensatz zu ihrem Vater war Lydia wenigstens bis jetzt genauso freundlich und liebevoll geblieben wie bei ihrer ersten Begegnung. Der Ton, den sie Anna gegenüber nun anschlug, gefiel ihr gar nicht. Sie wollte gerade schon wieder zu einer Bemerkung ansetzen, als sie den Blick ihrer Mutter bemerkte, der in die Wipfel der Bäume gerichtet war. Ein Rascheln ertönte und Anna fuhr herum. Sie folgte Lydias Blick in die Baumkronen hinauf, konnte dort aber nichts erkennen. Alles war still und die Luft schien zu vibrieren. Annas Nackenhaare stellten sich auf, als auch schon wieder ein Rascheln ertönte. Die Köpfe beider Frauen fielen gleichzeitig zu der Stelle, an der immer noch die Blätter wackelten.

Irgendetwas war dort.

Anna trat einen Schritt nach vorne, um besser zu sehen zu können, aber die Blätter waren so dicht, dass sie nicht einmal einen Sonnenstrahl hindurch ließen. Das Grün wackelte immer weniger, als würde es versuchen, wieder in seinen Ruhezustand zurück zu gelangen. Anna legte den Kopf schief und suchte nach einem Loch, das offenbaren konnte, was sich dort oben befand. Vorsichtig trat sie noch einen Schritt nach vorne, als sich in genau diesem Moment etwas über ihnen löste und zu Boden fiel. Anna wurde nach hinten gerissen und landete gemeinsam mit Lydia am Boden. Mit klopfendem Herzen starrten sie auf die Stelle, an der die Blondine eben noch gestanden hatte.

Anna atmete erleichtert auf.

Dort lag bloß ein Tannenzapfen, der sich von seinem Ast gelöst und den beiden Frauen den Schreck ihres Lebens eingejagt hatte. Lächelnd erhob Anna sich wieder und drehte sich zu ihrer Mutter um, die ebenfalls wieder auf die Beine gekommen war. Als sie jedoch Lydias versteinerte Gesichtszüge sah, wurde auch Anna wieder aufmerksamer.

„Es war nur ein Tannenzapfen, Mutter", versuchte sie Lydia zu beruhigen, „Sieh doch."

Das Rascheln ertönte abermals und weckte wieder das Leben in Annas Mutter. Sie packte ihre Tochter am Arm und zog sie hinter sich her, als sie auch schon losstürmte.

Just One Touch - Nur eine BerührungWhere stories live. Discover now